Triebkräfte von unten und oben hin zum Frauenstimmrecht

Gastautorin: Altbundesrätin Ruth Dreifuss

Warum war der Weg so lang und steinig? Und welche Rolle haben die politischen Strukturen unseres Landes, in erster Linie das «Kräfteverhältnis» zwischen Bund und Kantonen, dabei gespielt? Je nach Gesichtspunkt können die Kantone als Bremser betrachtet werden oder als die Pioniere, die mit ihrem Beispiel das ganze ins Rollen gebracht haben.

Es gab effektiv Kantone, die den Wandel der Parteien, des Bundesrates und der Meinung des männlichen «Souveräns» zwischen 1959 und 1971 einläuteten. Aber bis 1969 waren die, die weiterhin am Ausschluss der Frauen aus dem öffentlichen Leben festhielten, noch genügend zahlreich, um dem Bundesrat Angst vor einer Niederlage einzujagen… hätte er wirklich auch den Willen gehabt, eine neue Abstimmung zu organisieren.

Die Coronavirus-​Pandemie hat uns mit einer Situation konfrontiert, in der die Entscheidungen vom Bund getroffen und von den kantonalen Behörden umgesetzt werden müssen, was üblicherweise als «Top-​down»-​Ansatz oder Vollzugsföderalismus bezeichnet wird. Bei der Geschichte des Frauenstimmrechts handelt es sich jedoch um eine langsame, durch zahlreiche gesellschaftliche Impulse geprägte «Bottom-​up»-​Entwicklung. Diese Vorstösse bestanden während mehr als 100 Jahren aus Schriften, Petitionen, Meinungsumfragen bei Frauen, Kundgebungen, kantonalen und kommunalen Volksinitiativen, parlamentarischen Motionen und Postulaten, Beschwerden beim Bundesgericht, ja sogar einem Streik der Lehrerinnen eines Basler Gymnasiums 1959. Und schliesslich die als widerrechtlich beurteilte Teilnahme der Frauen an der eidgenössischen Abstimmung von 1957 in Unterbäch (VS). Ein Blick auf die lange Liste der 90 Abstimmungen bis zur Gleichstellung zeigt, dass nur wenige in erster Linie auf Vorschläge der Behörden zurückgingen.

Die Behörden warteten ab

Der lange Weg zur politischen Gleichstellung war durch eine Bewegung von unten nach oben geprägt. Die Behörden, und ganz besonders die drei Gewalten auf Bundesebene, warteten einfach ab, bis die Bewegung grösser wurde und das Anliegen von selbst überzeugte. Sie übernahmen weder eine Führungs-​ noch eine Aufklärungsrolle und schlossen sich – mit Ausnahme der engstirnigsten Äusserungen und den gegenüber den Frauen und ihren Fähigkeiten beleidigendsten Aussagen – widerspruchslos den Argumenten der Gegner an. Vor allem aber nahmen die Behörden ihre Verantwortung angesichts der Entwicklung der internationalen Menschenrechtsgrundsätze nicht wahr. Diese hätten sie veranlassen müssen, die traditionell den Männern und Frauen zugewiesenen Rollen in der Politik zu überwinden.

Die Frage ist also, wie schnell die Behörden auf die nachdrücklicher werdenden Forderungen einer Minderheit reagiert haben, die keine Lobby und keinerlei Gewicht bei Wahlen hatte. Dass es in den Gemeinden und Kantonen schneller ging, sollte uns nicht überraschen: erstens, weil die Emanzipationsbewegung dort teilweise und vor allem in der lateinischen Schweiz sowie in den Agglomerationen lauter war, und zweitens, weil diese Behörden in einem engeren Kontakt mit der Bevölkerung stehen.

Nach der Abstimmung von 1959 schien es, als müsste eine neue Volksabstimmung in eine ferne Zukunft verschoben werden. 21 Kantone und Halbkantone bodigten damals das Frauenstimmrecht. Abgesehen von der überwältigenden Mehrheit der Neinstimmen musste man einfach feststellen, dass das doppelte Mehr ein Hindernis war, das jedoch überwunden werden musste, wenn man den Weg einer Verfassungsänderung weiter beschreiten wollte. Dass drei Kantone – und zwischen 1966 und 1969 drei weitere – das Frauenstimmrecht annahmen und in ihrer kantonalen Gesetzgebung verankerten, widerspricht der These, dass sich die Kantone letztlich durchgesetzt haben. Der radikale Unterschied zwischen den Abstimmungen von 1959 und 1971 hat ganz andere Gründe: einen tiefgreifenden Mentalitätswandel in den dazwischenliegenden zwölf Jahren und den Einfluss des Auslandes auf die innenpolitische Diskussion.

Viele Veränderungen zwischen 1959 und 1971

Bei anderen Anlässen – und sie waren zahlreich in diesem Jubiläumsjahr – habe ich versucht, die Veränderungen, die diese zwölf Jahre prägten, aufzuzählen: die Entstehung einer neuen Frauenbewegung, die die jahrhundertealte Frage der Emanzipation mit dem Thema Frauenstimmrecht verband, der Studentenaufstand und die damit verbundene Ablehnung von Autorität, der Zugang von Frauen zu bis dahin Männern vorbehaltenen Berufslaufbahnen, während das Wirtschaftswachstum zu einem erhöhten Arbeitskräftebedarf im aufstrebenden Dienstleistungssektor führte, etc.

Allerdings geht es an dieser Stelle nicht darum, näher zu erläutern, wie sehr die 1960er-​Jahre die Gesellschaft veränderten, sondern welche Rolle der Blick von aussen auf die Schweiz spielte. Dass das Land, das sich gerne als älteste Demokratie bezeichnete und damit den französischen und amerikanischen Einfluss sowie die Tatsache verschwieg, dass das Stimmrecht für die Männer erst 1848 eingeführt worden war, als «Vorzeigedemokratie» den Frauen das Stimm-​ und Wahlrecht vorenthielt, erschien immer mehr als offenkundiger Widerspruch und warf im Ausland zahlreiche Fragen auf.

Die Beziehung zum Europarat war entscheidend

Den Auslöser für den Prozess, der zur Abstimmung von 1971 führte, bildeten unsere Beziehungen zum Europarat, dem die Schweiz 1963 beigetreten war. In einem ersten Schritt zog der Bundesrat in Betracht, die Europäische Menschenrechtskonvention mit einem Vorbehalt für den anachronistischen Sonderfall des Ausschlusses der Frauen aus dem demokratischen Prozess zu ratifizieren. Als dies jedoch umfangreiche und heftige Proteste auslöste, sah sich die Regierung veranlasst, diese Frage erneut Volk und Ständen zu unterbreiten. Und dieses Mal klappte es, auch wenn acht Kantone und Halbkantone erneut nein sagten und erst 1991 alle Schweizerinnen auf kantonaler Ebene in den Genuss ihrer staatsbürgerlichen Rechte kamen, da bei der Ratifizierung der Konvention die Souveränität der Kantone in dieser Angelegenheit ausbedungen worden war. Dies zeigt sehr schön, dass die staatsbürgerliche Gleichstellung von Mann und Frau in den Augen der Schweiz keine Frage der Menschenrechte war.

Ob der Föderalismus die Einführung des Frauenstimmrechts gebremst oder beschleunigt hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Klar ist, dass die Bundesbehörden die heisse Kartoffel an die Kantone weiterreichten. Gerade einmal drei der 90 Abstimmungen, die ein Jahrhundert des Kampfes prägten, fanden auf eidgenössischer Ebene statt. Und lokale Niederlagen dienten den Bundesbehörden als Vorwand, um keine politische Debatte anzustossen. Im Übrigen trugen zahlreiche Kantone dank Diskussionen im Rahmen von Abstimmungskämpfen dazu bei, dass den Forderungen der Frauenstimmrechtsbewegung immer und immer wieder Gehör verschafft wurde. Dennoch konnten sie die Gesamtlage nicht ändern. Der Grund liegt folglich nicht im Föderalismus, sondern im Konservativismus der Schweizer Gesellschaft – und in der Angst vor dem Scheitern. Die Angst vor dem Souverän ist nicht immer der Weisheit letzter Schluss, sondern manchmal ein Vorwand, um zu verschleppen und zu blockieren.

"Kooperativen Föderalismus" entwickeln

Dazu eine Nebenbemerkung: Meine Schlussfolgerung scheint tiefgreifendere Zweifel am Föderalismus auszudrücken. Dem ist jedoch überhaupt nicht so! In den zehn Jahren, in denen ich die Ehre – und die Freude – hatte, dem Bundesrat anzugehören, habe ich der Rolle der Kantone grösste Bedeutung beigemessen und den von mir so bezeichneten «kooperativen Föderalismus» entwickelt. Die Kantone wurden beispielsweise an zentralen Entscheidungen zur wissenschaftlichen Forschung und Koordinierung zwischen den Universitäten oder an der Festlegung von Naturschutzgebieten beteiligt. Über Initiativen aus den Kantonen und sogar grosser Städte unseres Landes konnte ich in Anerkennung ihrer Rolle als politische Labore Reformen auf eidgenössischer Ebene durchführen. Die Politik des Bundes in Sachen Drogen und Bekämpfung der HIV/AIDS-​Pandemie ist zu einem grossen Teil den auf lokaler Ebene angesichts des Ausmasses der Probleme im Bereich der öffentlichen Gesundheit und der Bevölkerungssicherheit gesammelten Erfahrungen zu verdanken. Dafür musste der Bundesrat den Kantonen das Recht einräumen, innovative Lösungen auszuprobieren und dafür sogar bundesgesetzliche Änderungen vorwegzunehmen.

Änhliches Verfahren für die staatsbürgerliche Rechte für Ausländer/Innen

Ich hoffe, dass Sie mir diese Abschweifung, die mir am Herzen liegt, verzeihen, denn sie zeigt die Rolle der Kantone bei der Umsetzung der Menschenrechte. Ich möchte den Begriff Staatsbürgerschaft erweitern und zwei Bevölkerungsgruppen ansprechen: Ausländerinnen und Ausländer sowie Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung. Ende 2020 hat Genf Letzteren als erster Kanton die vollen staatsbürgerlichen Rechte gewährt. Interessanterweise lautete eines der wichtigsten, vom Grossen Rat zugunsten dieser Reform ins Feld geführten Argumente, man wolle sich an die Pflichten aus der Ratifizierung der UNO-​Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz halten. Einmal mehr stützte sich die Forderung der direkt Betroffenen auf die internationale Anerkennung ihrer Legitimität.

Auch bei den staatsbürgerlichen Rechten für Ausländerinnen und Ausländer wurde die Debatte auf kantonaler Ebene eröffnet. Nebenbei bemerkt: Der Kanton Neuenburg, der als erster und für lange Zeit einziger den Ausländern das Stimmrecht (aber nicht das Wahlrecht) einräumte, tat dies kurz nach der Annahme der Bundesverfassung von 1848. Diese verpflichtete den Kanton dazu, den auf seinem Gebiet lebenden Eidgenossen die gleichen Rechte wie den eigenen Bürgern zu gewähren. Und warum diese Rechte dann nicht gleich auf alle Zugewanderten ausdehnen? Der Kanton Jura tat dies sofort mit Erlangung der Souveränität und gewährte sogar ein teilweises Wahlrecht. Zwischen 1995 und 2005 führten sechs Kantone das Stimmrecht auf Gemeindeebene ein oder erlaubten den Gemeinden die Einführung. In sechs Kantonen lehnte das Volk entsprechende Vorlagen ab. Wir stehen folglich an der Schwelle zu einer neuen Entwicklung der Demokratie, in der die Kantone eine entscheidende – bremsende oder beschleunigende – Rolle spielen werden. Ich setze darauf, dass Letztere gewinnen werden und dass die Erfahrungen aus dem Kampf für das Frauenstimmrecht und die verschiedenen dafür zu nutzenden Mittel sie inspirieren werden.

 

Zur Autorin

 Ruth Dreifuss war von 1993 bis 2002 Bundesrätin, und die erste Präsidentin der Schweiz. ©zvg

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