Notwendig, praktisch, aber auch gefährlich

Mélanie Haab, 6. Dezember 2022

Soziale Netzwerke und Demokratie II: Unendliche Räume für die Diskussion von Ideen oder Brutstätte von Verschwörungstheorien und Desinformation? Die sozialen Netzwerke spielen in demokratischen Prozessen eine immer wichtigere Rolle. Neue politische Gruppierungen entstehen auf den Diskussionsplattformen und werben dort Mitglieder. Aus diesem Trend kann die politische Bildung gestärkt hervorgehen, Fehlentwicklungen sind aber nicht ausgeschlossen.

Der erste Teil dieses Artikels über die Strategie der Kantone in den sozialen Netzwerken ist hier zu lesen.

2021 brachten die beiden Abstimmungen über die Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie 60 bis 65 Prozent der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger an die Urne. Diese hohe Quote wurde den sozialen Netzwerken zugeschrieben, in denen intensiv diskutiert wurde und sich zahlreiche Gruppen von Massnahmengegnern und Verschwörungsgläubigen bildeten. Bei den darauffolgenden, weniger emotionalen Abstimmungen war die Stimmbeteiligung wieder durchschnittlich hoch.

Seit der Gründung von Facebook 2004 sind die sozialen Netzwerke zu einem wichtigen Teil des Alltags einer breiten Bevölkerung geworden. Weshalb sollten diese neuen Medien nicht auch für die politische Bildung eine Rolle spielen?

Gemäss dem jüngsten Bericht über «Digitalisierung und Demokratie», den TA-SWISS 2021 mit Unterstützung des Forschungsinstituts gfs.bern und des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente (DSJ) publizierte, informieren sich 85 Prozent der Bürgerinnen und Bürger hauptsächlich über die Abstimmungsbüchlein und Zeitungsartikel. Nur ein Viertel der Befragten nutzt soziale Netzwerke und Erklärvideos – ein Wert, der in den letzten vier Jahren stagnierte. Laut der Studie über die Qualität der Medien 2022 des Instituts fög der Universität Zürich, das die Art und Weise der Mediennutzung beobachtet, ist die Situation alarmierender: Der durchschnittliche News-Konsum via Smartphone beträgt bei den 19-24 Jährigen nur gerade 7 Minuten pro Tag.

Ein sehr subtiler Effekt

«Wenn gesagt wird, dass sich ein Viertel der Bevölkerung ausschliesslich in den sozialen Netzwerken informiert, wird angenommen, dass die Grenze undurchdringlich ist. Aber man hat dort auch Zugang auf die Artikel der traditionellen Medien. In der Mediennutzung gibt es eine gewisse Durchlässigkeit», sagt Olivier Glassey, Professor am Observatoire science, politique et société (OSPS) der Universität Lausanne. «Diese Zahl zeigt die unterschiedliche Informationskultur der verschiedenen Altersgruppen.»

Soziale Netzwerke werden vor allem von einer jüngeren Bevölkerungsgruppe genutzt, auch wenn immer mehr Seniorinnen und Senioren den Zugang finden. «Ältere Menschen glauben Fake News eher als jüngere, welche bessere Informatikkompetenzen haben», stellt Tobias Keller von gfs.bern fest. Seine Dissertation befasst sich mit dem Einfluss der sozialen Netzwerke auf die Politik und genauer auf die Politikerinnen und Politiker.

Junge Erwachsene als bevorzugte Zielgruppe sozialer Bewegungen

Wo informieren sich die Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Die politische Sozialisierung erfolgt zu einem grossen Teil im Elternhaus. Dem Politikmonitor 2020 von easyvote zufolge bleiben die Eltern die erste Anlaufstelle.

Gleich dahinter folgt die Schule (39 %). Instagram wird zur wichtigsten Informationsquelle unter den sozialen Netzwerken. Das liegt vielleicht daran, dass diese ein eher passives Verhalten bewirken. Man reagiert auf Inputs und Benachrichtigungen und sucht weniger aktiv nach Informationen. Man müsste also eine erste politische Sozialisierung ausserhalb der Plattformen erfahren haben, um sie für diesen Zweck zu nutzen.

Die jüngsten sozialen Bewegungen einer Generation von Digital Natives – beispielsweise Operation Libero, die Klimajugend oder Extinction Rebellion – nutzen die sozialen Netzwerke intensiv, um ihr Zielpublikum zu erreichen. Während die traditionellen Parteien zuweilen mit den unterschiedlichen Befindlichkeiten und Problematiken der einzelnen Kantone konfrontiert sind, können diese neuen Bewegungen einheitlich kommunizieren. Sie finden mit spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit und motivieren so viele Jugendliche und junge Erwachsene für ein politisches Engagement, wie das Monitoring des Programms easyvote des DSJ zeigt. Damit verändert sich das gesamte Gesicht der Demokratie. «Die meisten der rund 90 Jugendparlamente und -räte in der Schweiz und in Liechtenstein sind auf Instagram, um auf ihre Projekte und Veranstaltungen aufmerksam zu machen und neue Mitglieder zu werben», erklärt Martina Tomaschett, Leiterin Kommunikation des DSJ. Auch TikTok gewinnt an Bedeutung. Der Dachverband muss deshalb auf allen Plattformen präsent sein, um mit seinen Mitgliedern in Kontakt zu bleiben und den Aufbau einer Community zu fördern. Er nutzt auch bezahlte Posts und Stories, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen.

Instagram wird zur wichtigsten Informationsquelle unter den sozialen Netzwerken. Das liegt vielleicht daran, dass diese ein eher passives Verhalten bewirken. Man reagiert auf Inputs und Benachrichtigungen und sucht weniger aktiv nach Informationen.

© Pexels - Tracy le Blanc

Die Parteien reagieren auf die soziale Guerilla

Die traditionellen politischen Parteien sind nicht weit: «In jeder Partei gibt es junge Mitglieder, die neue Technologien nutzen. Vor 20 Jahren verwendeten sie für die politische Profilierung Blogs, heute kommunizieren sie über die sozialen Netzwerke», stellt Olivier Glassey fest.

«Vor jeder Wahl sind die Politikerinnen und Politiker auf allen Plattformen präsent, wecken so das Interesse der Medien und tauschen sich mit einer breiten Öffentlichkeit aus. Leider hält dies nach der Wahl nicht an. Das ist bedauerlich», meint Tobias Keller.

Der DSJ führt die Voraussetzungen auf, um das Interesse der jungen Bürgerinnen und Bürger zu fördern: eine benutzerfreundliche, partizipative und inklusive Online-Plattform, eine Mobile-App, Anonymisierung und Datenschutz.

Diese Art, politisches Interesse zu wecken, kann auch missbraucht werden. Dies zeigen die Themennetzwerke (wie jenes von Donald Trump oder jene der Verschwörungsgläubigen) oder die Telegram-Chats, die den Weg für Desinformation ebnen können.

Immer selektivere Links

Weitere Risiken sind mit den sozialen Netzwerken verbunden. «Diese Plattformen erweisen sich als Ort, an dem für Information sozialisiert wird», erklärt Olivier Glassey. «Man muss langfristig beobachten, was diese Informationen bewirken werden.» Erste Feststellung: Die Nutzerinnen und Nutzer werden selektiv in Bezug auf unterschiedliche politische Meinungen. Abweichende Meinungen werden ignoriert und man empfindet eine Art von Aggression, wenn man damit konfrontiert wird. «Die Designs dieser Plattformen sind nicht für widersprüchliche Diskussionen gemacht und weisen keine Deeskalationsprozesse auf. In sozialen Netzwerken sind kurze Botschaften üblich, die aufgrund der Ökonomie des Denkens starke Emotionen auslösen. Eine Diskussion in einem fragmentierten Universum ist sehr schwierig.» Folglich gewinnen Individualisierung und geschlossene Gruppen an Bedeutung. Es werden einem nur noch Inhalte bereitgestellt, die gefallen dürften. Für die politische Debatte heisst das: «Emotionale Argumente werden fast immer stärker weiterverbreitet als neutrale oder rationale Argumente», bedauert Tobias Keller.

Allerdings kennt man diesen Filtereffekt schon länger. Abonniert man eine bestimmte Zeitung, übernimmt man in gewissem Sinne auch deren Weltsicht, da die Informationen unterschiedlich behandelt werden. Die Medien konzentrieren sich auf einen Teil der Wählerschaft. Neu sind die zeitliche Dimension, die Unmittelbarkeit und die Sätze, die aus dem Zusammenhang genommen werden. «Anders als die sozialen Plattformen kann ein Journalist eine Aussage, die auf Emotionen setzt, mit einem Kontext versehen», sagt der Experte weiter.

Und die GAFAM-Konzerne

Ein weiteres Hindernis sind die GAFAM-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft), denen die Plattformen gehören. Dieser Umstand relativiert die Behauptung, wonach die sozialen Netzwerke einen dynamischen Föderalismus fördern, indem sie das politische Engagement kleiner Gemeinschaften sichtbar machen und die Interaktionen zwischen ihren Nutzerinnen und Nutzern begünstigen. Das Ideal der multinationalen Konzerne ist mehr ökonomisch als demokratisch. «Die GAFAM-Unternehmen versuchen, sich ihrer redaktionellen Verantwortung zu entziehen», sagt Olivier Glassey. Wie könnte es auch anders sein, denn mit der Entwicklung ihrer Universen müssen sie gleichzeitig «mit der kulturellen Komplexität umgehen; jedes Land definiert die Meinungsfreiheit unterschiedlich.» Und dann gibt es die berühmten Algorithmen, die ständig analysieren, was uns interessiert, und uns das vorsetzen, was uns gefällt. «Es bräuchte eine bessere Zusammenarbeit der GAFAM, wie es bei den Vereinbarungen mit der Presse bereits der Fall war.»

Der Fall easyvote

easyvote informiert einfach und verständlich über Abstimmungsvorlagen und nutzt dazu Instrumente, die junge Erwachsene ansprechen. Kurze, dynamische Erklärvideos, Infografiken, eine Smartphone-App. Für dieses Engagement wurde das Projekt mit dem Föderalismuspreis 2021 der ch Stiftung ausgezeichnet. «Wir versuchen, Hindernisse beim Abstimmen abzubauen. Dazu ermitteln wir die Bedürfnisse der jungen Erwachsenen und begegnen ihnen dort, wo sie sind. Mit unseren Broschüren an ihrem Esstisch bis zu den sozialen Netzwerken», so das Team in seiner Bewerbung für den Preis.

Das Web 2.0 gehört zur DNA von easyvote, auch wenn die Informationsbroschüren für kantonale Geschäfte nach wie vor gedruckt und verteilt werden. «Die sozialen Netzwerke sind äusserst wichtig, um unsere Videos zu verbreiten und Hintergrundinformationen zu vermitteln», erklärt Martina Tomaschett. Für die Videos bleibt Youtube der Hauptkanal. Die Instagram- und TikTok-Communitys wachsen aber stetig.

Der DSJ betreibt zudem die Plattform engage.ch, über welche Jugendliche und junge Erwachsene ihre Ideen und Anliegen an die Behörden von Gemeinden, Kantonen und Bund einbringen können. Für Kampagnen wie «Verändere die Schweiz!» oder «Frag den Bundespräsidenten 2022» sind die sozialen Netzwerke unverzichtbar.


Zur Autorin

Mélanie Haab ist Kommunikationsbeauftragte bei der ch Stiftung. Sie besitzt einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Freiburg. In vormaliger Tätigkeit hat sie für verschiedene Medien als Journalistin gearbeitet.

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