«Politikerinnen sind häufig Zielscheibe psychischer Gewalt»

Interview Mélanie Haab, ch Stiftung

Regierungsräte mit Frauenmehrheit werden nach wie vor als Sensation wahrgenommen, eine männliche Mehrheit hingegen scheint normal. Das stellt Maribel Rodriguez, Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten, fest. Viele Parlamentarierinnen berichten von Belästigung durch ihre Kollegen und in den sozialen Netzwerken.

Wie beurteilen Sie die politische Partizipation von Frauen in der Schweiz heute?
Die Vertretung der Frauen in den Parlamenten und Exekutiven ist nach wie vor nicht paritätisch. Bei den letzten eidgenössischen Wahlen 2019 stieg der Frauenanteil im Nationalrat auf 42 Prozent, im Ständerat liegt er seither bei 26 Prozent. (A.d.R.: siehe dazu den Artikel Frauenbeteiligung: Höhen und Tiefen)

In den Kantonen ist die Situation sehr unterschiedlich. Im Walliser Staatsrat beispielsweise fehlen Frauen gänzlich. Im Genfer Staatsrat sind drei von sieben Mitgliedern Frauen, im Kanton Waadt sind sie in der Mehrheit (fünf Frauen und zwei Männer). Je nach Kontext sind Frauen also mehr oder weniger stark und dauerhaft in den Exekutiven und Legislativen vertreten. Und leider kehrt der Trend häufig. Eine Frauenmehrheit stösst auf Interesse in den Medien und sorgt für Sichtbarkeit, das Gegenteil bleibt unbemerkt. Dies zeigt, dass ein gewisser Konsens herrscht über diese scheinbare Normalität eines überwiegend männlich besetzten politischen Raums.

Welches sind die grössten Hindernisse?
Wird die politische Funktion nicht entschädigt, stellt sie häufig neben Erwerbsarbeit, Hausarbeit und Care-Arbeit eine Zusatzbelastung dar. Und vielfach ist es diese Aktivität, die bei einer Überlastung geopfert wird. Dies ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil ein Aufstieg in der Politik mit einem Engagement in der Lokalpolitik beginnt, wo Sitzungen am Abend und am Wochenende keine Seltenheit sind.

Ein anderes Hindernis besteht darin, dass an Frauen in der Politik paradoxe Anforderungen im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Familienleben und Politik gestellt werden. Entweder wird ihnen vorgeworfen, ihr Familienleben zu opfern, oder man kritisiert, dass sie sich nach einem politischen Mandat nicht für eine erneute Amtszeit zur Verfügung stellen.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Aufgrund verinnerlichter Stereotypen fehlt Frauen manchmal auch das Selbstvertrauen, sich auf eine Liste setzen zu lassen. Sie können weniger Redezeit als die Männer für sich beanspruchen und ihre Argumente werden häufiger in Frage gestellt.

Wie erklären Sie sich das?
Verschiedene Studien haben festgestellt, dass über 80 Prozent der befragten Frauen während ihres Mandats von psychischer Gewalt betroffen waren, insbesondere von Drohungen, getötet, vergewaltigt, geschlagen oder entführt zu werden. Psychische Gewalt gegen Politikerinnen ist im Internet und in den sozialen Netzwerken besonders heftig. Die Angriffe richteten sich häufig besonders gegen junge Parlamentarierinnen und Frauen, die sich gegen Geschlechterungleichheit und Gewalt gegen Frauen einsetzen. Diese Studien zeigten auch, dass ein Viertel der befragten Parlamentarierinnen von sexueller Belästigung seitens Parlamentarier ihrer eigenen politischen Partei und auch anderen betroffen waren. Sie sind auch weiterhin ungleich mehr Kritik ausgesetzt, vor allem zu ihrem Aussehen und ihrer Kleidung, und sie sind häufiger das Ziel von Belästigung in den sozialen Netzwerken.

«Die meisten Gleichstellungsbüros entstanden in den 90er-Jahren im Zuge der Verankerung des Grundsatzes der Gleichstellung in der Bundesverfassung, des ersten Frauenstreiks und der Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes.»

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Welche Hauptunterschiede gibt es zwischen den Kantonen in der politischen Gleichstellungsarbeit?
Manche Kantone sind bestrebt, die Frauen für eine stärkere Vertretung auf den Wahllisten vorzubereiten und ihnen Zugang zu Weiterbildungen im Bereich «Reden und Verhandeln» zu bieten. Sie richten auch Empfehlungen zur Rolle der Frauen an die politischen Parteien. Andere Kantone arbeiten an der Einführung von Rahmenbedingungen, um sexueller Belästigung vorzubeugen und sie zu bekämpfen.

Spiegeln diese kantonalen Unterschiede auch unterschiedliche Haltungen/Kulturen wider?
Sie sind eher mit der tatsächlichen Partizipation der Frauen in der Politik verbunden. Wenn wenige Frauen in der Politik vertreten sind, liegt der Schwerpunkt auf der Förderung von Frauenkandidaturen. Bei einem grösseren Frauenanteil wird sich die Arbeit eher auf die Rahmenbedingungen für die Ausübung eines politischen Mandats konzentrieren.

Inwiefern hat der Föderalismus dazu beigetragen, Frauenfragen voranzubringen?
Das Frauenstimmrecht wurde zuerst auf kantonaler Ebene Realität. 1959 führten die Kantone Neuenburg, Waadt und Genf als erste das Frauenstimmrecht ein, zwölf Jahre, bevor dies auf Bundesebene geschah. Die ersten Kantone, die den Bürgerinnen das Stimmrecht gewährten, stützten sich im Übrigen auf die Volksabstimmung, die ebenfalls 1959 auf Bundesebene stattfand – ein nationaler Schritt, der mit einer Niederlage endete, welche 1971 glücklicherweise umgekehrt wurde. Es gab also einen Vorbild- und Nachahmungseffekt.

Inwiefern stellte der Föderalismus umgekehrt ein Hindernis dar?
Dass einige Kantone vorangingen, führte zu einem Paradox. Einige Frauen konnten auf kommunaler und kantonaler Ebene, nicht aber auf nationaler Ebene abstimmen. In anderen Kantonen, die das kantonale Frauenstimmrecht noch nicht eingeführt hatten, war es umgekehrt. So zum Beispiel in Appenzell Innerrhoden, das 1991 durch einen Bundesgerichtsentscheid dazu verpflichtet wurde.

«Die Existenz der Gleichstellungsbüros wird oft in Frage gestellt oder ist gefährdet. Fortschritte und Rückschläge wechseln sich ab.»

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Vor welchem Hintergrund wurden die ersten Fachstellen für Gleichstellung gegründet?
Die erste Fachstelle für Gleichstellung wurde im Kanton Jura geschaffen – 1979, bei dessen Gründung. Die meisten Gleichstellungsbüros entstanden in den 90er-Jahren im Zuge der Verankerung des Grundsatzes der Gleichstellung in der Bundesverfassung, des ersten Frauenstreiks und der Verabschiedung des Gleichstellungsgesetzes. Dass die Arbeit für die Gleichstellung institutionalisiert wurde, ist aber vor allem auf die Mobilisierung von zivilgesellschaftlichen Organisationen und die in den Kantonsparlamenten eingereichten Vorstösse zurückzuführen.

Es gab auch einen gewissen Röstigraben...
Die Romandie war bei der Gründung von Fachstellen für die Gleichstellung schneller als die Deutschschweiz. Diese Gleichstellungsbüros wurden aus zwei Hauptbeweggründen eingerichtet. Zum einen sollte die berufliche Eingliederung von Frauen in die Arbeitswelt verbessert und zum anderen die Familienpolitik gefördert werden. Dieses Schwanken zwischen Stärkung der Stellung der Frauen und Familienpolitik ist bis heute geblieben.

In den meisten Kantonen stellte sich die Frage, ob eine eigene Fachstelle in der Verwaltung geschaffen oder eine private Organisation mit der Aufgabe betraut werden sollte. In einigen Kantonen, etwa Neuenburg, Freiburg oder Wallis, wurden Büros eingerichtet, deren Fortbestand nach einer Probezeit beurteilt werden sollte.

Die Existenz der Gleichstellungsbüros wird oft in Frage gestellt oder ist gefährdet. Fortschritte und Rückschläge wechseln sich ab.

Diente die Einführung von Gleichstellungsbüros in bestimmten Kantonen als «Labor» für die anderen?
Es gab tatsächlich einen Nachahmungseffekt. Höhepunkt war sicherlich der nach 1991 grösste Frauenstreik vom 14. Juni 2019, der das Bewusstsein für die Gleichstellung als politisches Anliegen gefestigt hat, hinter dem eine breite Bevölkerung steht. Die Geschichte der Frauenrechte wie auch der Gleichstellungsbüros hat aber gezeigt, dass Rückschläge nicht auszuschliessen sind.

Gab es also eine Bottom-up-Bewegung, die von den Kantonen auf das ganze Land überging?
Bestimmt, aber es gab auch eine Bewegung, die von der Zivilgesellschaft und den Frauenrechtsbewegungen ausging, die bei der Institutionalisierung der Gleichstellungsarbeit eine entscheidende Rolle spielten. Es ist aber auch auf den Top-down-Effekt der Arbeit des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann hinzuweisen. Dieses war die treibende Kraft vor allem bei den Lohngleichheitskontrollen und der Beteiligung der Schweiz an der internationalen Gleichstellungsagenda, was wiederum dazu beigetragen hat, dass sich das Engagement auf kantonaler Ebene verstärkte.


Zur Person

Maribel Rodriguez ist Leiterin des Büros für Gleichstellung zwischen Frau und Mann sowie Gleichstellungsbeauftragte des Kantons Waadt (BEFH) und Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten (SKG). Zum 50-jährigen Jubiläum des Stimm- und Wahlrechts der Frauen in der Schweiz hat die Konferenz der Westschweizer Gleichstellungsbüros das Buch «Femmes et politique en Suisse. Luttes passées, défis actuels, 1971–2021» herausgegeben. Die wissenschaftliche Koordination übernahmen Sabine Kradolfer und Marta Roca i Escodad (Editions Alphil).

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