Verwaltungsdigitalisierung und politisches System (1)

Die Positionierung der Schweiz im internationalen Vergleich

Marc Schaffroth, 18. Dezember 2023

Die Schweiz hat offenbar ein «hausgemachtes» Digitalisierungsproblem. So haben diverse Verwaltungspannen in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck verstärkt, der Föderalismus sei der Hauptgrund für den Rückstand der Schweiz bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. So einfach ist es nicht.

  • In einer dreiteiligen Artikelfolge wird untersucht, inwiefern die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz mit den ihr zugrundeliegenden konstitutionellen Rahmenbedingungen sowie den ihr eigenen Potentialen in Verbindung steht.
  • Teil 1: Die für die Schweiz paradoxen Ergebnisse bei länderübergreifenden Benchmarks zu eGovernment und zur Qualität der Regierungs- und Verwaltungsführung sind erklärungsbedürftig. Sie weisen darauf hin, dass der Zusammenhang von Verwaltungsdigitalisierung und politischem System im internationalen Kontext unzureichend berücksichtigt wird.
  • Teil 2: Die von der World Bank vorgelegte Digitalisierungsagenda greift zu kurz. Zur politischen Legitimation braucht es die Positionierung der Verwaltungsdigitalisierung in einem demokratischen Systemkontext.
  • Teil 3: Vor diesem Hintergrund verleiht ein kollaborativ vernetzter Vollzugsföderalismus der Digitalen Transformation des öffentlichen Sektors der Schweiz starken Rückhalt. Mehr Mut zur «Swissness» ist gefragt.

Die Schweiz hat offenbar ein «hausgemachtes» Digitalisierungsproblem. Die schleppende Entwicklung und der internationale Rückstand sind dokumentiert im dürftigen Abschneiden in den jährlich publizierten internationalen Rankings (z.B. EU-eGovernment Benchmark 2023, vgl. Tabelle 1). Ebenso haben diverse administrative Pannen – erst kürzlich ein Berechnungsfehler bei den Eidgenössischen Wahlen 2023 – in der öffentlichen Wahrnehmung den Eindruck bestärkt, der «Föderalismus» sei der Hauptgrund für das Hintertreffen der Schweiz in der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung.1

«Die Schweizer Verwaltung kann keine Digitalisierung, das ist der Preis für unser politisches System», «Föderalismus frisst Digitalisierung» resümieren wenig schmeichelhaft publizistische Kommentare in der NZZ oder in Inside IT. Ob es sich bei diesem Unvermögen zum digitalen Wandel um eine in der Bundesverfassung gleichsam «systemisch» angelegt Hypothek handelt (Subsidiaritätsprinzip) oder profaner um ein selbstverursachtes Führungs- und Steuerungsproblem der Politischen Plattform Digitale Verwaltung Schweiz2 auf der Bundesstellen, Kantone und Gemeinden gemeinsam agieren – darüber gehen die Meinungen auseinander.

Verwaltungsdigitalisierung in der Schweiz gemäss eGovernment-Benchmark (2023) der EU

Vergleich mit den Positionierungen Estlands (EU-Vorbild für Verwaltungsdigitalisierung) und Deutschlands (wichtigster Handelspartner der Schweiz).

In diesem Kontext höchst paradox erscheint nun allerdings folgender Sachverhalt: Trotz offenkundiger Schwächen bei der Digitalisierung des öffentlichen Sektors glänzt die Schweiz global mit Bestnoten als Wirtschaftsstandort (World Competitiveness Ranking) und als Innovationsstandort (World Innovation Index)3, wobeiGovernment Effectiveness und Government Efficiency als Schlüsselkompetenzen aufgeführt werden.

Laut dem World Competitiveness Ranking (2023), welches die globale Wettbewerbsfähigkeit von insgesamt 64 Volkswirtschaften bewertet, belegt die Schweiz den hervorragenden 3. Gesamtrang. Bemerkenswert dabei: Unser Land schneidet bei der Government Efficiency weltweit am besten ab (1. Rang). Wohlgemerkt trägt die Effizienz unseres Regierungs- und Verwaltungssystems mehr zur Gesamtplatzierung der Schweiz als kompetitiver Wirtschaftsstandort bei als die Business Efficiency (7. Rang) oder die Business Performance (18. Rang).

Die folgende Tabelle 2 gibt Aufschluss über das Abschneiden der Schweiz im World Competitiveness Ranking (2023) und zwar im Vergleich mit zwei Mitbewerbern des eGovernment-Benchmark 2023 der EU, nämlich Estland (gilt in der EU und für die Schweiz als Vorbild für die Verwaltungsdigitalisierung) und Deutschland (wichtigster Handelspartner der Schweiz). Zusätzlich ist Saudi-Arabien als Beispiel für ein finanzstarkes und wirtschaftlich ambitioniertes autokratisches Regime aufgelistet.

World Competitiveness Ranking (2023): Ländervergleich Schweiz, Estland, Deutschland und Saudi-Arabien

Auffallend: Saudi-Arabien belegt 2023 sowohl beim «Overall Ranking» als auch den Dimensionen «Economic Performance», «Government und Business Efficiency» deutlich vordere Ränge als Estland und Deutschland. Eine detaillierte Erhebung und Analyse der Veränderung der Rangreihenfolgen der Mitbewerber im 5- und 10-Jahres-Vergleich wäre bestimmt aufschlussreich!

Der Index Worldwide Governance Indicators (WGI) der World Bank erhebt und listet die Qualität der Regierungs- und Verwaltungsführung (Quality of Governance) von über 200 Staaten auf, und zwar anhand folgender sechs Indikatoren: Demokratische Legitimität, Politische Stabilität und Abwesenheit von Gewalt, Effektivität der Regierung (Government Effectiveness), Regulatorische Qualität, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung.4 

Die überragende Qualität des Schweizerischen Regierungs- und Verwaltungssystems wird im neusten WGI-Index gleich mehrfach bestätigt: Die Schweiz rangiert in allen der sechs untersuchten Governance-Dimensionen, darunter der Government Effectiveness, auf den vordersten Rängen. In der nachfolgenden Grafik sind die Platzierungen der Schweiz, von Estland, Deutschland und Saudi-Arabien im Gesamtranking 2022 vergleichend gegenübergestellt.

Die World Governance Indicators (2022) geben Auskunft über die Qualitäten des politischen Systems sowie der Regierungs- und Verwaltungsführung eines Landes

Worldwide Governance Indicators (2022): Das Abschneiden der Schweiz, von Estland, Deutschland und Saudi-Arabien im Vergleich (Percentil-Ranking).

Government Effectiveness und Government Efficiency stehen für die Bereitschaft und Leistungsfähigkeit von Regierung und Verwaltung, öffentliche Aufgaben in der vom Gesetzgeber – dem Souverän – erwarteten Qualität (Quality of Services4) zu erfüllen. Quality of Governance hat gemäss WGI eine verfassungsmässig verankerte und garantierte demokratische Gestaltungsmacht des politischen Gemeinwesens als Grundlage. Darüber hinaus weisen die Spitzenresultate der Schweiz auf weitere potentielle Einflussfaktoren hin, wie direkt-demokratische Verfahren, das Konkordanz-System auf Regierungsebene sowie das Subsidiaritätsprinzip, welches staatliche Aufgaben- und Leistungsverantwortung über mehrere föderale Ebenen verteilt.5

Der Föderalismus hat positive Effekte

Tatsächlich bestätigt das Zentrum für Verwaltungsforschung KDZ mit Verweis auf die hervorragenden Schweizer Ergebnisse, dass Local Autonomy (vulgo: der «Föderalismus») ein positiver Wirkfaktor für eine gute Government Effectiveness ist.6 Hinzu kommt: Während für die gesamte EU zutrifft «Je höher die Ausgaben der öffentlichen Verwaltung sind, desto besser ist die Effektivität des Staates», sticht einzig die Schweiz mit niedrigen Staatsausgaben bei gleichzeitig höchster Effektivität hervor. Das Zentrum für Verwaltungsforschung KDZ hält deshalb fest: «Countries with weaker local autonomy perform lower in government effectiveness (e.g. quality of public services, civil service, independence from political pressures, policy formulation and implementation).»

Die im World Competitiveness Ranking bzw. in den World Governance Indicators bescheinigten Bestnoten für Quality of Governance und Quality of Services vermitteln ein hoch differenziertes Bild von den im politischen Gesamtsystem Schweiz strukturell und politisch angelegten Gestaltungspotentialen und kollektiven Befähigungen. Subsidiarität und Föderalismus haben übrigens in der von der OECD kürzlich lancierten Open Government-Initiative7 sowie in den revidierten OECD Principles of Public Administration8 deutlich an Bedeutung gewonnen.

Vor diesem Hintergrund bleibt unverständlich, weshalb Politik, Regierung und Verwaltung diese im politischen System Schweiz verankerten und im globalen Vergleich überdurchschnittlichen institutionellen Stärken nicht als strategische Ressourcen erkennen und als Trumpfkarte in der Digitale Transformation ausspielen.

Referenzen

1 Das Föderalismus-Argument kann freilich auch als bequeme Ausrede für eigene Entscheidungsschwächen, Versäumnisse etc. herhalten.

2 Vgl. Digitale Verwaltung Schweiz . Das Grundlagendokument zu dieser schweizweiten Initiative ist die Öffentlich-rechtliche Rahmenvereinbarung über die Digitale Verwaltung Schweiz von 2017.

3 Vgl. World Intellectual Property Organization (WIPO) - World Innovation Index (2023) (Homepage): Die Schweiz nimmt global Rang 1/132 ein (zum Vergleich: Estland: Rang 16/132 und Deutschland: Rang 08/132)  

4https://www.worldbank.org/en/publication/worldwide-governance-indicators/frequently-asked-questions

5 Vgl. dazu A. Vatter, "Das politische System Schweiz" (2013)

6  KDZ – Does local autonomy improve government effectiveness

7 Open Government hat zum Ziel «to guarantee better implementation of the rule of law and fundamental civic freedoms, increase the reliability of government decision-making and breathe new life into the policy-making process, with citizens at the helm» (vgl. OECD Open Government for Stronger Democracies. A Global Assessment, 2023).

8 Subsidiarität im Aufgabenvollzug und eine damit zusammenhängende föderale Autonomie in politischen und finanziellen Belangen gehören neu zum Bestand der 2023 komplett revidierten OECD Principles of Public Administration (vgl. OECD Principle 14 und OECD Principle 32).


Zum Autor

Marc Schaffroth, lic. phil. I, arbeitete bis 2021 beim Bereich Digitale Transformation und IKT-Steuerung DTI (Schweiz. Bundeskanzlei). In seinen Funktionen als Geschäftsarchitekt, Prozess- und Informationsmanager hat er u.a. Standardisierungsfachgremien des Standardisierungsvereins eCH geleitet.

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