26 Kantone, 4 Sprachen. Wirklich?

Mélanie Haab, 15. Februar 2024

Mehrsprachigkeit gehört zur DNA der Schweiz. Ihre tiefe Verwurzelung bildet ein starkes Fundament für die Integration von Nichtlandessprachen, aber auch als Schutz gegen das globale Englisch.

Die Sprachen und der Föderalismus: Um diese zwei helvetischen Besonderheiten beneidet uns die Welt seit der Bundesverfassung von 1848. Darin werden Deutsch, Französisch und Italienisch als Landessprachen festgelegt, 1938 kommt Rätoromanisch hinzu. Niemand käme auf die Idee, diesen Grundsatz in Frage zu stellen.

Ein Blick auf die Zahlen des Bundesamtes für Statistik von 2021 zeigt: Zwei Drittel der Bevölkerung verwenden regelmässig mehr als eine Sprache. Deutsch (und Schweizerdeutsch) ist mit einem Anteil von 62 %, Französisch mit 22,8 %, Italienisch mit 7,9 % und Rätoromanisch mit 0,5 % in Gebrauch. Andere Sprachen werden von 23,1 % der Bevölkerung regelmässig benutzt. Im Quintett der Fremdsprachen findet man Englisch, Portugiesisch, Spanisch, Serbisch und Kroatisch. Wenn man die Entwicklung über die letzten Jahrzehnte beobachtet, stellt man fest, dass der Anteil der Landessprachen – mit Ausnahme von Französisch, das stabil bleibt – rückläufig ist. Hingegen legen die ausländischen Sprachen zu.

In der Schweiz werden im Alltag viel mehr Idiome als die vier Landessprachen verwendet.

Mehrsprachigkeit als Selbstverständlichkeit

Die Mehrsprachigkeit findet sich im Alltag, ohne dass man ihr noch besondere Beachtung schenkt: auf der Milchpackung, im Kino mit Filmen in Originalversion und deutschen und französischen Untertiteln oder in Begriffen, die den Röstigraben übersprungen haben. In der Deutschschweiz geht man ins «Spital» oder zum «Coiffeur» und wäscht sich die Hände im «Lavabo». In der Romandie isst man «bircher müesli» und macht «la poutze» (den Haushalt) oder erzählt «un witz».

Diese Besonderheit hat zwar einen spielerischen Anschein, zeigt aber eine Harmonie, um die uns andere mehrsprachige Länder beneiden. Flamen und Wallonen verstehen sich wie Hund und Katze und die Diskussion um eine Zweiteilung des Landes kommt in Belgien immer wieder auf – wobei der Streit in der zweisprachigen Hauptstadt besonders intensiv geführt wird. In Kanada versteht sich die französischsprachige Minderheit als «Québecois», aber sicher nicht als Kanadier. In Indien werden 22 offizielle Sprachen und mehr als 300 Idiome und Dialekte anerkannt. Die nationale Regierung verwendet vor allem Hindi und Englisch.

Politik

In diesem Schwerpunkt werden wir mehrere Erklärungsansätze für den Erfolg der Mehrsprachigkeit in der Schweiz beleuchten. Die Sprachen waren schon immer Gegenstand politischer Debatten: sei es in den zweisprachigen Kantonen, bei Abstimmungen, wenn die lateinische Schweiz anders abstimmt als die Deutschschweiz, oder bei der Bundesratswahl, wo die Kandidatinnen und Kandidaten danach beurteilt werden, wie gut sie die Landessprachen beherrschen. Gibt es bei 26 Kantonen auch 26 verschiedene Befindlichkeiten? Welche Rolle spielt der Föderalismus in dieser Frage? Wir werden in einem Artikel auf die Dialekte eingehen, die in der Romandie und im Tessin im Rückgang, in der Deutschschweiz aber identitätsstiftend sind.

Bildung

Bei den Schülerinnen und Schülern ist das Erlernen der Landessprachen zunehmend unbeliebt. Sie bevorzugen Englisch, es ist einfacher und passt besser zu ihrer Nutzung von Smartphones und sozialen Netzwerken. Einige Kantone haben den bildungspolitischen Entscheid getroffen, dass als erste Fremdsprache Englisch und erst später eine zweite Landessprache unterrichtet wird. Anpassung an die Realität der Arbeitswelt? Gefahr für eines der konstituierenden Elemente des Föderalismus? Es gibt aber auch Beispiele für eine gelungene eidgenössische Zusammenarbeit – zum Beispiel die Schüleraustauschprogramme zwischen Zürich und Waadt oder zwischen Solothurn und Neuenburg. Schliesslich werden wir uns mit der heiklen Frage des wachsenden Gebrauchs von Englisch – Sprache der Wissenschaft – an den Universitäten und Technischen Hochschulen befassen. Dabei sticht die zweisprachige Universität Freiburg heraus, die eine Sprachenpolitik eingeführt hat.

Zu guter Letzt – Literatur

Nach der Schule erfolgt die Sprachvermittlung vor allem über die Kultur (Kunst). Die Literatur – und die übersetzte Literatur - ist für den inneren Zusammenhalt seit jeher unerlässlich. Ob man an den Roman «Heidi» von Johanna Spyri denkt, der 1880 auf Deutsch publiziert und im selben Jahr auf Französisch und Italienisch übersetzt wurde (und heute in über fünfzig Sprachen existiert). Oder an die bereits 1919 gegründete Lia Rumantscha, Dachverband der romanischen Sprachvereine.

Die ch Reihe, die 1974 von der ch Stiftung ins Leben gerufen wurde, führt diese Tradition weiter und setzt sich dafür ein, die Schweizer Kultur durch die Literatur über die Sprachgrenzen hinaus bekannt zu machen. Es ist kein Zufall, dass «Portrait des Vaudois» (Leben und Sterben im Waadtland) von Jacques Chessex und «Portrait des Valaisans» (Ritratto dei Vallesani) von Maurice Chappaz zu den ersten Büchern gehörten, die mit Unterstützung der ch Reihe ins Deutsche bzw. Italienische übertragen wurden. Die beiden Werke bauen Brücken zwischen Französisch-, Deutsch- und Italienischsprachigen.

Die ch Reihe feiert 2024 ihr 50-jähriges Bestehen mit verschiedenen Veranstaltungen in der ganzen Schweiz. Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme der übersetzten Literatur in der Schweiz. Wir werden ihr in diesem Schwerpunkt einige Artikel widmen.


Zur Autorin

Mélanie Haab ist Kommunikationsbeauftragte bei der ch Stiftung. Sie besitzt einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Freiburg. In vormaliger Tätigkeit hat sie für verschiedene Medien als Journalistin gearbeitet.

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