Demokratie und Föderalismus: Dreamteam oder Beziehungskrise?

Interview Nicole Gysin und Alexander Arens, ch Stiftung, 13. September 2024

Das politische System der Schweiz verbindet direkte Demokratie und Föderalismus. Beide sind aber weit mehr als verfassungsrechtlicher Buchstabe. Was sie ausmachen und wann sie am besten funktionieren, verrät der Politologie Sean Mueller (Universität Lausanne) im Interview zum Tag der Demokratie.

Am 15. September ist der Tag der Demokratie. Was macht eine funktionierende Demokratie aus und was würden Sie der Schweizer Demokratie, auch im internationalen Vergleich, für ein Zeugnis ausstellen?

Der beste Gradmesser der Demokratie ist der Demos, also das Volk selbst. Es wird dann ein gutes Zeugnis ausstellen, wenn es sieht, dass seine Anliegen aufgenommen, kollektive Probleme gelöst und Ressourcen effizient eingesetzt werden. Nationale und internationale Umfragen zeigen hier ein sehr gutes Abschneiden der Schweizer Demokratie, auch wenn nicht alles perfekt ist. Das Vertrauen in die politischen Institutionen, Prozesse und Akteure ist ebenfalls sehr hoch, und die Wahl- und Stimmbeteiligung auf Bundesebene ist stabil bzw. sogar zunehmend. Natürlich hat vieles mit Wohlstand und friedlichem Zusammenleben zu tun, aber diese beiden Dinge sind auch wieder nur Anzeichen einer funktionierenden Demokratie.

Zusammen mit der direkten Demokratie ist der Föderalismus einer der tragenden Pfeiler des politischen Systems der Schweiz. In welchem Verhältnis stehen diese beiden verfassungsrechtlichen Prinzipien?

Beide probieren die kollektive Entscheidfindung zu organisieren und zu optimieren. Wer soll wann und worüber bestimmen? Wer muss umsetzen, wer bezahlt? Direkte Demokratie geht aber von der Gleichheit aller Stimmbürgerinnen und Stimmbürger aus, und zwar egal, wo sie wohnen. Föderalismus basiert auf der Gleichheit der Kantone – egal, wie gross. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Prinzipien ist deswegen komplex. Letztlich funktionieren aber beide besser genau dank ihrem Zusammenspiel. Die Demokratie wird bereichert durch die Vielfalt, die der Föderalismus weiterzuleben erlaubt: Die Kantone, Gemeinden und Städte reden auf Bundesebene mit und helfen, Entscheide zu verbessern. Meistens liegt ja sowieso die Umsetzung bei ihnen und sie müssen auch einen grossen Teil der Finanzierung besorgen. Gleichzeitig haben wir nicht nur eine einzige, sondern auch noch 26 und sogar über 2000 subnationale Demokratien. Föderalismus bewirkt, dass die unteren Ebenen je nach Themenbereich sogar wichtiger sind als die Bundesebene. Die Zufriedenheit der Leute ist dann umso grösser, weil sich drei kompetente, verantwortliche Ebenen um ihre Anliegen kümmern und nicht nur eine. Föderalismus kommt der Demokratie aber vor allem dann in die Quere, wenn die dazu notwendige Koordination nicht klappt oder gar ins gegenseitige Beschuldigen kippt.

Die Demokratie wird bereichert durch die Vielfalt, die der Föderalismus weiterzuleben erlaubt: Die Kantone, Gemeinden und Städte reden auf Bundesebene mit und helfen, Entscheide zu verbessern.

Kann man sagen, dass eine dezentrale Organisation des Staates demokratischer ist, indem sie etwa mehr Wahl- und Beteiligungsmöglichkeiten bietet? Oder ist es eher andersrum, bspw. mit Blick auf Einheitlichkeit von Regeln und Massnahmen: Je zentralistischer, desto demokratischer?

Das kommt drauf an, was wir unter Demokratie verstehen. Rein mechanisch gesehen ist eine grössere Anzahl Mitbestimmungsmöglichkeiten demokratischer, also eben genau Wahlen und Abstimmungen alle vier Monate über drei Staatsebenen hinweg, und subnational auch noch separate Wahlen für Exekutive und Legislative oder gar Landsgemeinden und Gemeindeversammlungen. Aber wenn ich, und das ist die inhaltliche Ansicht, dauernd und überall überstimmt werde, habe ich keine grosse Freude an der Demokratie mehr. Und wir haben ja auch die repräsentativen Institutionen geschaffen, damit ich eben nicht dauernd selbst abstimmen muss sondern entlastet werde. Insofern ist demokratischer, was besser funktioniert, also eine grössere Anzahl Leute zufriedenstellt und trotzdem gesellschaftliche Probleme effizient löst. 

Bezogen auf die Schweiz und ihre Geschichte: Wäre eine Schweiz ohne (direkte) Demokratie oder eine nicht-föderale Schweiz überhaupt denkbar?

Sehr schwer vorstellbar, aber Gedankenspiele kann man natürlich trotzdem anstellen. Wenn 1848 eine zentralistischere Schweiz kreiert worden wäre, zum Beispiel ohne Ständerat und mit Einheitswahlkreis über das ganze Land hinweg für den Nationalrat, wäre die anhaltende Opposition der ehemaligen Sonderbundskantone sicher noch virulenter gewesen. Und ohne fakultatives Referendum ab 1874 kein Proporz, und ohne Proporz ab 1919 auch keine Zauberformel ab 1959. Die Schweiz würde es dann im besten Fall gerade noch geben, aber was für eine? Über die Zeit sind ja sowohl die direkte Demokratie als auch der Föderalismus zu wichtigen, eine gemeinsame Identität festigenden Elementen geworden. Das heisst nicht, dass man immer mit allem einverstanden sein muss oder wir das beste System haben. Aber es ist schon sehr wichtig für eine Gesellschaft, etwas zu haben, mit dem sich fast alle identifizieren können, weil auch für sie etwas abfällt dabei und nicht nur für eine kleine Mehrheit. Direkte Demokratie und Föderalismus erfüllen beide auch diese Funktion.

Dennoch scheint in der Schweiz die direkte Demokratie in der breiten Öffentlichkeit grossen Rückhalt zu geniessen, während der Föderalismus in den letzten Jahren stärker unter Druck geraten ist. Teilen Sie diese Ansicht? 

Der Föderalismus hat ein eher negatives Bild in Gesellschaft und Medien, das ist so. Man erwähnt ihn oft erst dann, wenn etwas nicht funktioniert – Stichwort Flickenteppich oder Kantönligeist. Anders als bei der direkten Demokratie gibt es auch keine fixen Termine, an denen man sich damit beschäftigen muss und die einem eine physische Erfahrung bescheren. Was ist das föderale Äquivalent zur Abstimmungsurne oder nur schon zum Bundesbüchlein, das an alle Haushalte mit mindestens einer Stimmberechtigten verschickt wird? Föderalismus ist deswegen weniger greifbar, abstrakter. Ironischerweise ist er hier Opfer seines eigenen Erfolgs, denn er soll ja gerade aufteilen, verteilen und im Hintergrund für stabile Verhältnisse wirken – und nicht dauernd in Frage gestellt werden wie in Spanien, Belgien oder auch den USA. Das zweite Problem ist, dass bei Föderalismus viele nur an die kantonale und kommunale Autonomie denken, also an das Gegensätzliche, Kleinteilige. Dabei ist der Schweizer Föderalismus durch das Zusammenkommen und den Kompromiss unter grundverschiedenen Einheiten entstanden: Deutsch- und Französischsprachige, Protestanten und Katholiken, Industrie und Landwirtschaft, Stadt und Land. Föderalismus ist also auch Zentralismus, natürlich in Massen, aber das geht oft unter. 

Der Schweizer Föderalismus ist durch das Zusammenkommen und den Kompromiss unter grundverschiedenen Einheiten entstanden: Deutsch- und Französischsprachige, Protestanten und Katholiken, Industrie und Landwirtschaft, Stadt und Land. 

Der Tag der Demokratie soll daran erinnern, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist und von uns allen gelebt, gepflegt und gefördert werden muss. Wo sehen Sie den Schlüssel zur Stärkung der Demokratie in der föderalen Schweiz?

Die grösste Gefahr für die hiesige föderale Demokratie kommt von unten, beim abnehmenden Interesse an kantonalen und kommunalen Wahlen. Hier nimmt die Beteiligung praktisch überall ab. Natürlich ist es vermeintlich einfacher, über prinzipielle Fragen abzustimmen wie Zersiedelung stoppen: ja/nein; Zuwanderung eindämmen: ja/nein. Aber wie das dann konkret ausschaut, im eigenen Haus, in der Schule, im Verkehr oder bei der Arbeit, das entscheiden nicht zuletzt die unteren Ebenen. Von diesen könnte man auch noch viel mehr lernen: Welche Innovationen waren warum erfolgreich, welche Experimente sind woran gescheitert? Die schönste Dachterrasse macht ja keinen Sinn, wenn der Rest des Hauses bröckelt – und wir davon nicht mal Kenntnis haben!

Wie zur Demokratie sollten wir also auch zum Föderalismus Sorge tragen: Wo sehen Sie aktuell die grössten Herausforderungen für den Schweizer Föderalismus? Und welche Lösungen bieten sich an?

Der Föderalismus hat wie schon gesagt ein eher schlechtes Image. Wie bei einem Schiedsrichter spricht man erst dann von ihm, wenn er aneckt. Schlimmstenfalls ist er Synonym für undemokratische Blockaden, etwa wenn die Konzernverantwortungsinitiative am Ständemehr scheitert, oder gar für Unterdrückung, etwa im Falle des Frauenstimmrechts in Appenzell. Dabei waren beides lupenreine demokratische Entscheide nach den damals geltenden Regeln! Föderalismus ist aber doch so viel mehr: Vielfalt, Toleranz, Wettbewerb, Innovation, Identität, Solidarität, Integration… Aber klar, es braucht Leute, die all dies und mehr auch glaubwürdig “verkaufen”, will heissen die Vorteile für die Menschen aufzeigen können. Wir planen für den Sommer 2025 eine Ausstellung zum Föderalismus im Polit-Forum in Bern, da wollen wir genau solche Aspekte beleuchten. Konkrete Ideen dazu von den Kantonen und Gemeinden, und natürlich auch vom Bund und interessierten Bürgerinnen, nehmen wir sehr gerne auf. Getreu dem demokratischen Motto: vom, durch und für das Volk.


Zur Person

Sean Müller ist Assistenzprofessor am Institut d’études politiques der Universität Lausanne. Er forscht zu Schweizer und vergleichendem Föderalismus sowie direkter Demokratie.

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