Dialekt oder Hochdeutsch? Wie Sprache und Politik zusammenhängen
Das Institut für Mehrsprachigkeit forscht aktuell zum Thema «Mehrsprachigkeit und politische Mitsprache». Eine erste Studie zeigt die Relevanz der Sprach(en)wahl in Deutschschweizer Kantonsparlamenten. Mélanie Haab tauschte sich am 2. Juni 2025 an der Universität Freiburg mit dem Forschungsteam über deren wichtigsten Erkenntnisse aus.
Raphael Berthele ist Professor und Naomi Shafer wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg.
ch Stiftung (chS): In Ihrer Studie beschreiben Sie die Situation in der Schweiz sowohl als «Flickenteppich» als auch als «föderalistischer Vielfalt». Wie beurteilen Sie die Situation nun konkret?
Naomi Shafer (NS): Die unterschiedlichen Bezeichnungen spiegeln gut die explorative Herangehensweise wider. Wir mussten uns erst orientieren: In welchen Deutschschweizer Kantonsparlamenten wird überhaupt welche Sprache gesprochen – Dialekt oder Hochdeutsch? Nach einem ersten Überblick habe ich mich näher mit dem Kanton Schwyz befasst. Warum wird im Kantonsrat Schwyz auf Dialekt gesprochen? Welche praktischen Herausforderungen ergeben sich daraus, etwa bei der Protokollierung? Und: Weshalb hat man in Schwyz Dialekt gesetzlich verankert, während Sprache in anderen Kantonen kein Thema ist? Am Schluss ziehe ich ein positives Fazit: der sprachliche «Flickenteppich als Sinnbild für die föderalistische Vielfalt der Schweizer Politiklandschaft.
Raphael Berthele (RB): Dass es mehrere Lösungen für dieselbe Herausforderung gibt, ist ziemlich typisch für den Föderalismus. Im Kanton Graubünden stellte sich etwa die Frage, ob die Deutschsprachigen ebenfalls Dialekt sprechen dürfen, weil die Rätoromanen auch ihre jeweilige Dialektvariante benutzen. Als Gegenargument wurde die automatische Protokollierung ins Feld geführt. Im Kanton Schwyz verlief die Diskussion bei der Revision der Geschäftsordnung anders – dort bleibt der Dialekt erlaubt.
NS: Für mich zeigt das sehr gut den Stellenwert von Vielfalt in der Schweiz. Dass man unterschiedliche Lösungen findet und diese nicht zwingend per Gesetz regeln muss. In nur vier von 17 Deutschschweizer Kantonen ist überhaupt gesetzlich festgelegt, in welcher Sprache im Parlament gesprochen werden soll. In den übrigen Kantonen scheint das zumeist kein grosses Thema zu sein – es funktioniert einfach so, wie es sich etabliert hat.
chS: Beim Lesen der Studie bekommt man den Eindruck, dass es sich um eine sehr emotionale Frage handelt.
NS: Das stimmt. Dialekt ist in der Deutschschweiz ein emotionales Thema. Es hat mit Herkunft, Identität und Zugehörigkeit zu tun. In der Ratsleitung des Kantonsparlaments Schwyz wurde intensiv darüber diskutiert, ob man zu Hochdeutsch wechseln solle. Die Kommissionsmehrheit empfahl schliesslich, beim traditionellen Dialekt zu bleiben; das wurde dann im Parlament auch nicht weiter hinterfragt.
chS: Was waren denn die Argumente für die Beibehaltung des Dialekts?
NS: Es gibt viele Gründe. Einerseits will man Heimat und kulturelles Erbe bewahren. Andererseits kann die Beibehaltung des Dialekts auch eine Art Abgrenzung gegenüber «denen da oben in Bern» darstellen. Und schliesslich hat es wohl auch damit zu tun, dass viele Kantonsratsmitglieder auch in ihrem beruflichen Alltag überwiegend Dialekt verwenden, z.B. in handwerklichen oder praktischen Berufen. Das politische Milizsystem der Schweiz soll es allen ermöglichen, sich zu engagieren – nicht nur einer sprachlich versierten Elite.
chS: Aber unabhängig davon, ob Mundart oder Hochdeutsch – braucht es überhaupt eine Sprachregelung? Reicht Gewohnheitsrecht nicht aus?
RB: Grundsätzlich ist es so: Institutionalisierung und sprachliche Vielfalt stehen in einem paradoxen Verhältnis, selbst wenn das Ziel der Institutionalisierung eindeutig der Schutz einer Minderheit ist. Man muss bei einer Regelung immer bestimmte Sprachen oder Dialekte auswählen, priorisieren, und die Vielfalt kategorisieren. Das ist in der Sprachenpolitik oft problematisch: Wenn man etwa sagt, Schweizerdeutsch sei erlaubt – welches Schweizerdeutsch meint man dann genau? Oder welches Rätoromanisch – Rumantsch Grischun oder ein Idiom? Gesetzliche Festlegungen führen zwangsläufig zu Vereinheitlichungen innerhalb der Kategorien und verstärken Unterschiede zwischen den Kategorien. Wenn man also radikal im Sinne der Diversität denkt, müsste man sagen: Je weniger man gesetzlich regeln muss, desto besser. Dennoch gibt es Kontexte – etwa bei Sprachenkonflikten – in denen man entscheiden muss, ob und wie man schützen will. Eine einfache Antwort gibt es hier nicht.
NS: Für den gesellschaftlichen Bereich – etwa die Schule – gilt das ganz besonders. In der Politik hingegen scheint es gut zu funktionieren, dass viele Kantone in der Deutschschweiz keine Sprachregelungen punkto Dialekt oder Standardsprache erlassen haben, sondern sich auf Gewohnheitsrecht verlassen. Im Kanton Schwyz hingegen wurde gesetzlich festgelegt, dass die Verhandlungssprache Deutsch sei, und zwar «in der Regel Schweizer Mundart». Hochdeutsch ist also ebenfalls zulässig.
RB: Seit über 100 Jahren wird in der Schweiz über Mundart debattiert. Das Problem ist: Deutsch ist in der Deutschschweiz ein vager Begriff. Je nach Kontext muss man verstehen, was genau gemeint ist.
NS: Auch in der Bundesverfassung ist das nicht klar definiert – demgegenüber wird etwa im schulischen Kontext explizit von Standarddeutsch gesprochen.
Sprache als politisches Dauerthema
chS: Wirken denn die Bundesgesetze zur Sprache zu wenig? Müsste man das eher kantonal regeln?
RB: Wahrscheinlich ja. Das Bundesgesetz hat zwar seine Verdienste, aber besonders in mehrsprachigen Kantonen braucht es Regelungen auf kantonaler oder gar Bezirks- oder Gemeindeebene – etwa für den Schulbesuch in einer anderssprachigen Gemeinde. Der Bund kann zwar fördern, insbesondere im Hinblick auf Minderheitensprachen, aber die konkrete Ausgestaltung gehört in die Kantone.
chS: In einigen Kantonen wie dem Tessin oder dem Jura hat das Territorialitätsprinzip Vorrang vor der Sprachenfreiheit, andere Kantone pflegen aktiv ihre Mehrsprachigkeit. Wie erklären Sie sich diese Unterschiede?
RB: In diesen zwei Kantonen leben in der Schweiz jeweils nationale Minderheiten, die aber in ihrer Region lokale Mehrheiten sind. Das dürfte eine Rolle spielen. Sie definieren sich als Minderheit und möchten der nationalen Mehrheit keine zusätzlichen Rechte einräumen. Vermutlich spielt aber auch die Demografie eine grössere Rolle – die Interpretation des Territorialitätsprinzips ist nur in Gemeinden an der Sprachgrenze jeweils kontrovers.
NS: Ähnliches können wir im Kanton Freiburg beobachten, wo die französischsprachige Mehrheit vermeiden möchte, dass das Deutsche bzw. die deutschsprachige Minderheit zu stark wird. In der Stadt Freiburg etwa, die offiziell frankophon ist, gab es deshalb kürzlich Widerstand gegen ein zweisprachiges Stadtlogo.
chS: Unterscheidet sich die Haltung zur Mehrsprachigkeit je nachdem, ob man zur Mehrheits- oder Minderheitensprache gehört?
RB: Ganz klar. Minderheiten nutzen das Konzept der Zweisprachigkeit, um ihre Rechte geltend zu machen – was auch legitim ist. Das Forum für die Zweisprachigkeit etwa wurde nicht zuletzt gegründet, um in Biel sicherzustellen, dass die Frankophonen berücksichtigt werden.
chS: Ist der Föderalismus also eher eine treibende Kraft oder eine Bremse für die Mehrsprachigkeit?
RB: Das kommt auf die Ebene und die konkrete Umsetzung an. Wenn Föderalismus bedeutet, dass Gemeinden ihren Sprachstatus selbst bestimmen dürfen, kann das Minderheiten helfen oder schaden, je nachdem. Im rätoromanischen Sprachgebiet etwa haben traditionell rätoromanische Gemeinden in der Vergangenheit entschieden, deutschsprachig zu werden. Dort wurde die Gemeindeautonomie, auch ein Teil des Föderalismus, durch ein kantonales Gesetz eingeschränkt, das auf Basis von Prozentzahlen festlegt, ob eine Gemeinde romanisch oder zweisprachig ist. Föderalismus mit Territorialitätsprinzip wie in der Schweiz eignet sich eher dazu, regionale alteingesessene Mehrheiten zu stützen – wie im Kanton Jura, der einsprachig konzipiert ist, obwohl er es de facto nicht ist.
NS: Der Kanton Schwyz ist ein Beispiel dafür, wie föderale Strukturen sprachliche Vielfalt fördern: Während die Mehrheit der deutschsprachigen Kantonsparlamente keine klare gesetzliche Sprachregelung hat, geht Schwyz mit der Verankerung von Mundart einen Sonderweg. Das zeigt, wie Kantone ihren Handlungsspielraum nutzen können, um Werte wie Traditionsbewusstsein und kantonales Selbstverständnis gesetzlich zu schützen.
chS: Es hängt also vom jeweiligen Kanton ab, ob er Mehrsprachigkeit fördert?
RB: Ja. Kantone, die Minderheiten berücksichtigen, leisten einen wichtigen Beitrag. Das Problem ist: Es gibt viele schöne Deklarationen zur Viersprachigkeit der Schweiz. Doch im politischen Alltag in Bundesbern dominiert dann doch das Deutsche. Man darf den Föderalismus also in dieser Hinsicht nicht idealisieren – die demografischen Machtverhältnisse bleiben bestehen.
Mehrsprachigkeit und Demokratie: it's complicated
chS: Macht also Mehrsprachigkeit die Demokratie komplizierter?
RB: Das Symbol der vier Landessprachen wird manchmal fast fetischisiert. In der Praxis bedeutet Mehrsprachigkeit eine gewisse administrative Komplexität – eine Bricolage mit vielen Übersetzungen …
NS: … aber es ist schon auch so, dass Mehrsprachigkeit den Dialog zwischen den Sprachgruppen und Landesteilen fördert und Perspektivenwechsel ermöglichen kann. Andere Sprachen erlauben bekanntlich immer auch Einblick in andere Ansichten.
chS: Gehört das Prinzip «Jeder spricht seine Sprache» in der Schweiz bald der Vergangenheit an?
RB: Theoretisch wäre es möglich – im Nationalrat gibt es Simultanübersetzungen, die Vertretungen der Minderheiten sprechen aber schon heute meistens Deutsch, wenn sie sichergehen wollen, dass man sie versteht. Praktisch hört man im Parlament selten Italienisch. Wenn es doch vorkommt, richtet sich die Rede meist an die Wählerschaft zu Hause. Sonst dominiert ganz klar das Deutsche.
chS: Haben Sie eine Zauberformel für funktionierende Mehrsprachigkeit in der Politik?
RB: Zauberformeln gibt es hier nicht. Die Schweizer Bricolage hat Vor- und Nachteile. Entscheidend ist, dass Menschen lebenslang die Möglichkeit haben sollen, andere Sprachen zu lernen – wenn sie es wollen oder müssen. Das gilt auch für Politikerinnen und Politiker.
chS: Letzte Frage: Nun liegen erste Publikationen zu Ihrer Studie vor – doch die Ergebnisse lassen sich unterschiedlich interpretieren. Können Sie das beeinflussen?
NS: Soweit wir sehen, verläuft Sprachenpolitik grundsätzlich quer zu den politischen Lagern. Die Kantone orientieren sich an ihren Bedürfnissen. Manche Parlamente debattieren auf Hochdeutsch – etwa, weil sie internationaler ausgerichtet sind –, andere auf Dialekt. Sprache ist ein Thema, zu dem jede und jeder etwas sagen kann. Unser Ziel war es, die Situation zu untersuchen und besser zu verstehen – nicht eine politische Positionierung.
RB: Es besteht immer auch das Risiko, dass Sprache politisch instrumentalisiert wird – etwa, wenn Dialekt plötzlich bei der Einbürgerung als Integrationskriterium verwendet wird. Uns geht es um die Prozesse: Was wird über Sprache gesagt und gedacht? Und wie wirkt sich das auf Menschen mit unterschiedlichen sprachlichen Repertoires aus? Darum forschen wir weiter auf den verschiedenen Ebenen des föderalistischen Systems, etwa zur Partizipation neu Eingebürgerter und zu Fragen politischer Mehrsprachigkeit.
Zum Forschungsprojekt
Das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Wie spricht die Schweiz?» befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Viel- und Mehrsprachigkeit, politischen Institutionen und rechtlichen Gegebenheiten in der Schweiz. Im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Föderalismus und dem Institut für Mehrsprachigkeit, beide an die Universität Freiburg angegliedert, wird das Themenfeld «Recht, Politik und Sprache » erforscht. Das Projekt befasst sich mit der Interaktion von Sprache(n) und institutionellen Bedingungen in Kontexten der mehrstufigen Schweizer Demokratie. Durch den Blick auf das Zusammenspiel von Föderalismus und Vielsprachigkeit, Konsens und Polarisierung sowie sozialer Kohäsion und gesellschaftlichem Wandel wird die Frage beleuchtet, wie (mehrsprachig) die Schweiz (politisch) miteinander spricht.
Neben der Studie zur Sprachanwendung in den Deutschschweizer Kantonsparlamenten laufen derzeit auch Studien zur politischen Debatte bei «Infrarouge» (RTS) und «Arena» (SRF) sowie zur Partizipation neu Eingebürgerter auf Gemeindeebene. Ergebnisse liegen im Herbst 2025 vor.

Zu den Personen
Raphael Berthele und Naomi Shafer arbeiten an der Universität Freiburg. Raphael Berthele ist Professor am Departement für Mehrsprachigkeitsforschung und Fremdsprachendidaktik. Naomi Shafer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Mehrsprachigkeit.