«Ich bin eine Föderalistin im Herzen»
Interview Mélanie Haab, ch Stiftung
Florence Nater (53 Jahre) hat im Juli das Präsidium der ch Stiftung übernommen. Die Neuenburger Staatsrätin spricht über ihre politischen Kämpfe, ihr Engagement für die Integration aller und ihre Sicht auf den Föderalismus.
Was hat Sie dazu gebracht, sich für Politik zu interessieren?
Auf jeden Fall nicht meine Familie, dort war das Interesse nicht besonders gross. Im Dezember 1983, in der Sekundarschule, verfolgten wir live die Wahl, die Lilian Uchtenhagen zur Bundesrätin hätte machen sollen. Ich erinnere mich an meine Empörung nach ihrer Nichtwahl und wie ich mir der Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bewusst wurde.
Wurde das zum roten Faden in Ihrer politischen Laufbahn?
Nein, aber es ist ein Teil davon. In meiner Tätigkeit als Sozialarbeiterin stellte ich rasch fest, dass das System nicht immer funktionierte und Menschen durch die Maschen des sozialen Netzes fielen. Dass man gegen Ungleichheit und für die Integration aller kämpfen muss. Mir wurde klar, dass nur mit politischen Lösungen Veränderungen im Grossen möglich sind. Ich musste nicht lange suchen, bis ich meine politischen Affinitäten gefunden hatte. Ich bin seit dem Jahr 2000 SP-Mitglied.
Sie haben auf kommunaler Ebene angefangen. Ist es der natürliche Weg, seine politische Laufbahn auf diese Weise zu beginnen?
Ich war von 2003 bis 2005 in der Legislative der Gemeinde Corcelles-Cormondrèche. Aber zusammen mit meiner Anstellung und zwei kleinen Töchtern bedeutete dies eine Dreifachbelastung. Erst 2010, als es meine Kinder und meine Arbeit zuliessen, bin ich wirklich in die Politik eingestiegen. Doch bereits zuvor hatte ich mich stark für Menschen mit Behinderung engagiert. Im Rahmen einer Protestaktion habe ich sogar eine Nacht beim «Fontaine de la justice» in Neuenburg campiert! Im letzten November verabschiedete der Grosse Rat den Entwurf des Gesetzes zur Inklusion und Unterstützung von Menschen mit Behinderung (Loi sur l’inclusion et l’accompagnement des personnes vivant avec un handicap – LIncA), in welches ich beruflich und ganz am Anfang meiner politischen Laufbahn stark involviert gewesen war. Das war ein sehr emotionaler Moment. Der Kreis schloss sich.
Da kam es also gelegen, dass Ihnen nach Ihrer Wahl im Mai 2021 das Département de l’emploi et de la cohésion sociale (Departement für Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt) zugeteilt wurde.
Ja, es freut mich sehr, dieses Departement führen zu dürfen. Nach etwas über einem Jahr in dieser Funktion habe ich mich in meiner Rolle gefunden, ich stehe im Zentrum spannender politischer Entscheidungen. Ich bin im Vorstand der SODK und konnte meine Kolleginnen und Kollegen der anderen Kantone kennenlernen. Jetzt möchte ich meine politischen Geschäfte auf interkantonaler Ebene einbringen, die Vielfalt der Schweiz sichtbar machen – die kulturelle Vielfalt, aber auch die Unterschiede zwischen kleinen und grossen Einheiten, wobei immer auch die Minderheiten berücksichtigt werden. Jede und jeder hat ihren oder seinen Platz in der Schweiz. Die Minderheiten sind mir wichtig, da sie weniger im Vordergrund stehen, es sei denn, sie verursachen Kosten für die Gemeinschaft.
Welche Rolle wird die ch Stiftung unter Ihrem Präsidium bei diesen Themen einnehmen?
Die ch Stiftung wagt es, anders zu denken. Sie stellt nicht nur das Generalsekretariat der KdK. Die Stiftung kann Projekte unterstützen, die nicht oder nicht gut in die Fachkonferenzen passen. Sie trägt dazu bei, öffentliche Debatten zu aktuellen Themen zu eröffnen oder unterschiedliche Kulturen besser zu verstehen, insbesondere durch die Übersetzung von Werken der Schweizer Literatur dank der ch Reihe. Projekte im Zusammenhang mit der künftigen Interkantonalen Fachkonferenz Citoyenneté werden das politische Bewusstsein von Personen schärfen, die mit dem Schweizer System weniger vertraut sind. Sie ist ein Instrument zur Förderung des Föderalismus, der lebendig gehalten werden muss. Die Arbeit in den Kantonen soll das gemeinsame Handeln nicht verdrängen.
Wie sehen Sie den Föderalismus?
Ich bin eine Föderalistin im Herzen. Das war ich bereits, bevor ich Vollzeitpolitikerin geworden bin. Der Föderalismus ist der Zement des Landes, aber er hält sich nicht von selbst instand. Er erfordert eine Meta-Haltung, die den regionalen Realitäten übergeordnet ist und sich als seine Stärke erweist. Der Föderalismus ermöglicht ein Zusammenleben in der Vielfalt – auf dieser Philosophie gründet auch mein berufliches und politisches Engagement. Als Geschäftsführerin der «Coordination romande des associations d’action pour la santé psychique» (Westschweizer Dachverband der Organisationen für psychische Gesundheit) habe ich mehrmals erfahren, wie es ist, eine gemeinsame Position unter Berücksichtigung der Unterschiede jeder und jedes Einzelnen zu erarbeiten und diese zu vertreten. Die Festigung des Föderalismus stärkt die Schweiz, auch in ihren Beziehungen mit der Europäischen Union.
Inwiefern?
Wir haben eine Geschichte, ein System, das zwar nicht perfekt, aber solider ist, als man glauben könnte. Die Arbeit in Abstimmung untereinander stärkt uns gegenüber unseren Nachbarn. Den Kantonen kommt gegenüber der EU eine Rolle zu, ohne dass sie dabei mit dem Bund in Konflikt geraten. In Neuenburg und in den Westschweizer Kantonen ist man sich der Auswirkungen des Abbruchs der Verhandlungen zum institutionellen Rahmenabkommen – des Einflusses auf die Forschungsprojekte – bewusst. Die Herausforderung ist gross und es braucht eine Abstimmung, einen Dialog, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Auch die Problematik der Energieversorgung könnte die Schweiz schwächen. Es ist aber noch zu früh, um deren Ausmass zu erfassen.
Föderalismus bedeutet auch, dass jeder Kanton Praktiken ausprobieren kann, welche die anderen danach ebenfalls anwenden können. Inwiefern kann Neuenburg für die übrigen Kantone eine Laborfunktion wahrnehmen?
Unsere Politik der kulturellen Integration – die in der Schweiz Pioniercharakter hat – funktioniert gut. Wir beteiligen uns an internationalen Programmen zur Rassismusbekämpfung; unsere Verwaltung ist offen für Vielfalt. Wir haben auch eine neuartige Strategie zur beruflichen Integration, die erfolgreich ist. Im letzten Frühling haben wir die «Assises de la cohésion sociale» (Veranstaltungsreihe zum sozialen Zusammenhalt) gestartet. Dabei wollen wir die produktive, aber auch die reproduktive Arbeit (Familien- und Hausarbeit, Betreuung durch Angehörige, Freiwilligenarbeit im sozialen, kulturellen und sportlichen Bereich etc.) neu denken, denn diese wird nur wenig beachtet und wertgeschätzt. Und im vergangenen März haben wir eine Beauftragte für die Inklusion von Menschen mit Behinderung eingesetzt.
Konnten bereits weitere Kantone von diesen Bestrebungen profitieren?
Ja, insbesondere der Kanton Jura hatte Interesse für unseren Entwurf des Inklusionsgesetzes gezeigt. Ich bin sicher, dass rasch auch in anderen Kantonen eine Stelle für eine/n Inklusionsbeauftragte/n Realität werden könnte. In der Regel sind die Kontakte zwischen den Amtskolleginnen und -kollegen zu verschiedenen Themen – bilateral oder in den entsprechenden Strukturen – bereichernd und konstruktiv.
Können Sie uns ein weiteres Beispiel geben?
Die thematische Arbeit auf Bundesebene ist wesentlich. Ebenso wichtig ist die kantonsinterne bereichsübergreifende Arbeit zu jedem Thema. Wir stellen beispielsweise fest, dass bei Fragen der Geschlechtergleichheit sektorspezifische Massnahmen (Lohngleichheit, Bekämpfung häuslicher Gewalt) nicht ausreichen. Es sind die Geschlechterstereotypen, die die Probleme verursachen, und man findet sie in allen Aspekten des Lebens: am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Schule, in der Freizeit ... Ich arbeite deshalb eng mit meiner Kollegin Crystel Graf zusammen, die für die Schulen zuständig ist, um Sensibilisierungsarbeit zu leisten. Die Männlichkeit, wie sie heute definiert ist, kostet die Gesellschaft viel. Das Politische kann Impulse geben, um etwas zu bewegen.
Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Schweiz?
Ich erinnere mich an das Bild meiner damals knapp einjährigen Tochter, die an der Expo02 auf der Arteplage in Neuenburg zwischen den Schilfrohren herumlief. Das war ein ehrgeiziges, kompliziertes und schliesslich sehr verbindendes Projekt (und das sage ich nicht, weil ein Teil davon in Neuenburg stattfand). Ansonsten bin ich in diesem Sommer die Seen-Route mit dem Velo gefahren, von Romanshorn zum Walen- und Sarnensee bis zum Brienzersee. So viel Blau, das war wunderschön.
Welches Gericht verbindet Sie mit der Schweiz?
Rösti. Meine Mutter machte eine göttliche Rösti. Ich muss bald wieder einmal versuchen, selbst eine Rösti zuzubereiten ...
Zur Person
Florence Nater ist seit 2021 Vorsteherin des Departements für Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt im Kanton Neuenburg. Seit 1. Juli 2022 ist sie Präsidentin der ch Stiftung und ebenso Mitglied des Leitenden Ausschusses der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK). Geboren 1967 in La-Chaux-de-Fonds, hat sie langjährige berufliche Erfahrung als Sozialarbeiterin sowie als Geschäftsführerin des Westschweizer Dachverbands der Organisationen für psychische Gesundheit. Daneben bekleidete sie verschiedene politische Ämter auf lokaler und kantonaler Ebene.