In Gefahr: Regionale Perspektiven auf nationale Themen

Daniel Vogler und Mark Eisenegger, fög, 31. August 2022

Medien, die aus den Regionen auf die Schweiz blicken, sind für das föderalistische System der Schweiz zentral. Sie stellen sicher, dass kantonale Perspektiven auf das nationale Politikgeschehen den Weg in den öffentlichen Diskurs finden. Medien mit regionalem publizistischem Profil nehmen eine wichtige Scharnierfunktion zwischen den Kantonen und der nationalen Ebene ein – insbesondere bei eidgenössischen Abstimmungen. Die zunehmende Medienkonzentration gefährdet diese Medienleistung.

Der Föderalismus ist eine prägende Kraft in der Schweiz. Gerade bei eidgenössischen Abstimmungen kristallisiert sich diese Eigenheit heraus. Immer wieder weichen Kantone von der Mehrheitsmeinung ab. Die Kantone Schwyz und Appenzell Innerrhoden, beziehungsweise deren Stimmbevölkerung, haben etwa als einzige Kantone die Änderungen des Covid-19-Gesetzes am 28. November 2021 abgelehnt.

Zur Erklärung von Abstimmungsergebnissen werden gerne Gräben zwischen den Sprachregionen oder urbanen und ländlichen Kantonen herangezogen. Im Wallis dominieren tatsächlich oftmals andere Perspektiven auf bestimmte Themen als in den urban geprägten Kantonen Basel-Stadt und Genf, beispielsweise beim Tierschutz oder der Jagd. Einzelne Kantone sind auch über das Ständemehr oftmals das Zünglein an der Waage bei Abstimmungen. Die wirtschaftlich wegweisende Abstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative wurde beispielsweise von einer Mehrheit der Stimmbevölkerung angenommen, aufgrund des fehlenden Ständemehrs aber abgelehnt.

"Es ist wichtig, dass die regionalen Perspektiven auch in der Öffentlichkeit ausreichende Berücksichtigung finden. So kann Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven entstehen und im Idealfall können entsprechende Kompromisse ausgehandelt werden. Diese Aufgabe übernehmen allen voran regional verankerte Medien." Daniel Vogler und Mark Eisenegger vom fög

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Zentralredaktionen als Bedrohung für die Medienvielfalt?

Diese Beispiele machen klar, dass die Kantone mitunter ganz unterschiedlich auf die nationalen Abstimmungen blicken. Entsprechend wichtig ist, dass diese regionalen Perspektiven auch in der Öffentlichkeit ausreichende Berücksichtigung finden. So kann Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven entstehen und im Idealfall können entsprechende Kompromisse ausgehandelt werden. Diese Aufgabe übernehmen allen voran regional verankerte Medien wie beispielsweise die Aargauer Zeitung, die Berner Zeitung oder Le Nouvelliste.

Solche Medienleistungen an der Schnittstelle zwischen regionalen und nationalen Themen sind jedoch durch die zunehmende Medienkonzentration gefährdet. Wenige Medienhäuser mit Hauptsitz in Zürich oder Aarau besitzen mittlerweile einen grossen Teil der Printmedien mit ihren Onlineausgaben von kantonaler Bedeutung. Diese Medien werden von Zentralredaktionen mit identischen Inhalten beliefert. Folge daraus ist eine sinkende Vielfalt der Themen und regionalen Perspektiven im schweizerischen Medienmarkt.

Wachsende inhaltliche Medienkonzentration

Vielen Leserinnen und Leser bleibt die wachsende Medienkonzentration verborgen. Denn die Medientitel werden oft als eigenständige Einheiten weiterbetrieben, obwohl ihre Inhalte zunehmend ähnlicher werden. Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich hat für das «Jahrbuch Qualität der Medien» diese Entwicklung untersucht. Die Studie zeigt, dass im Pressemarkt im Jahr 2021 mehr als jeder vierte Beitrag in der Politikberichterstattung (28%) geteilt wird, also in mindestens zwei verschiedenen Zeitungen erscheint (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Inhaltliche Medienkonzentration im Deutschschweizer Pressemarkt nach Themenbereichen, 2017–2021

Anmerkung: Die Darstellung zeigt die Entwicklung der inhaltlichen Medienkonzentration im Pressemarkt der Deutschschweiz nach Themenbereichen. Abgebildet sind die Prozentanteile der geteilten redaktionellen Beiträge.
Lesebeispiel: Der Anteil der geteilten Beiträge in der Politikberichterstattung beträgt 2021 28%. Der Wert hat sich seit 2017 um 12 Prozentpunkte erhöht.

Der Vielfaltsverlust ist auch im Bereich der internationalen Berichterstattung messbar (Abbildung 2). Weil das demokratische Gemeinwesen nationalstaatlich fundiert ist, ist eine Konzentration bei Berichten zur internationalen Ebene jedoch nicht im gleichen Mass problematisch. Positiv ist ferner, dass die Regionalredaktionen (noch) nicht so stark zentralisiert sind, d.h. die Berichterstattung hier zurzeit noch am wenigsten durch eine Zunahme der Gleichförmigkeit gekennzeichnet ist. Jedoch geht auch hier die Tendenz in Richtung verstärkter redaktioneller Kooperation. Das zeigt das Beispiel der Zürcher Regionalzeitungen von TX Group. Die Lokal- und Regionalberichterstattung für Landbote, Zürichsee Zeitung und Co. wird zukünftig ebenfalls aus einer Zentralredaktion geliefert.

Abbildung 2: Inhaltliche Medienkonzentration im Deutschschweizer Pressemarkt nach geografischem Bezugsraum, 2017–2021

Anmerkung: Die Darstellung zeigt die Entwicklung der inhaltlichen Medienkonzentration im Pressemarkt der Deutschschweiz nach geografischem Bezugsraum. Abgebildet sind die Prozentanteile der geteilten redaktionellen Beiträge.
Lesebeispiel: Der Anteil der geteilten Beiträge in der Berichterstattung mit nationalem Fokus beträgt 2021 34%. Der Wert hat sich seit 2017 um 23 Prozentpunkte erhöht.

Die Konzentration in der Berichterstattung auf nationaler Ebene ist hingegen weit fortgeschritten und damit besonders problematisch. Dort ist mittlerweile jeder dritte Artikel geteilt, d.h. erscheint in mindestens zwei verschiedenen Medien (34%). In der Berichterstattung zu nationaler Politik sind es sogar 42% der Beiträge. Es spielt eine Rolle, ob die Einordnung zur Abstimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe aus der eher ländlichen Berner Perspektive in der Berner Zeitung oder der urbanen Zürcher Perspektive im Tages-Anzeiger vorgenommen wird. Oder umgekehrt ist es relevant, ob Einordnungen zur Landwirtschaftspolitik erfolgen, die für das urbane Zürich in der Regel weniger Auswirkungen haben als für den Kanton Bern. Mit der Einführung von Zentralredaktionen geht diese Differenzierung oftmals verloren.

Für die einzelne Leserin, den einzelnen Leser mag dieser Vielfaltsverlust nicht sofort sichtbar werden. Nur wenige lesen mehr als einen Medientitel eines Verbundsystems. Womöglich erhält er oder sie durch die Bündelung von journalistischen Ressourcen sogar ein qualitativ hochwertigeres Medienprodukt. Über Verbundsysteme können zudem auch regionale Medien erhalten werden, die aus ökonomischen Gründen nicht eigenständig überleben würden.

Unverzichtbare Regionalmedien

Der Verlust an Vielfalt in der nationalen Politikberichterstattung ist dennoch bedenklich. In Verbundsystemen werden Medien zusammengefasst, die traditionell die Brücke zwischen regionalen und nationalen Themen schlagen. Diese Medien blicken auf die Schweiz und berücksichtigen dabei regionale Themen und Eigenheiten in ihre Berichterstattung. Im direktdemokratischen System der Schweiz ist es unverzichtbar, dass regionale Perspektiven auf das nationale Politikgeschehen einfliessen. Dies trifft besonders im Vorfeld von nationalen Abstimmungen zu, bei denen Regionen unter Umständen unterschiedlich stark von den Auswirkungen der Entscheide betroffen sind.

Medien, die mit einem klaren regionalen publizistischen Profil auf die Schweiz blicken, sind deshalb unverzichtbar. Einerseits für die Vermittlung der nationalen Politik an das regionale Publikum. Andererseits um regionale Perspektiven und Bedürfnisse in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen. Davon profitieren die Leserinnen und Leser aber letztendlich auch die Gesellschaft als Ganzes. Dies bildet die unverzichtbare Voraussetzung für eine föderalistische Gesellschaft, bei der die Regionen voneinander lernen.

Teile dieses Beitrags erschienen in abgeänderter Form als Wochenkommentar in den Schaffhauser Nachrichten vom 1. April 2021 (Titel «Aus der Region und auf die Region: Forum Medienkonzentration in der Schweiz»).


Zu den Autoren

Dr. Daniel Vogler ist Forschungsleiter und stellvertretender Direktor des Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich.
Prof. Dr. Mark Eisenegger ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) der Universität Zürich und Direktor des fög.

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