Ist der Föderalismus ein Schönwettersystem?

Moderation (chS) Nicole Gysin und Mélanie Haab

Das Jahr 2020 ist untrennbar mit der Covid-​19-Pandemie verbunden. Drei Expertinnen und Experten aus Recht, Politologie und Medien diskutieren über die Auswirkungen der Krise auf den Föderalismus. Das Gespräch fand am 9. März 2021 statt.

Nicole Lamon (NL) ist stellvertretende Chefredaktorin bei le Matin Dimanche, Lausanne
Bernhard Waldmann (BW) ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht am Institut für Föderalismus, Freiburg
Michael Hermann (MH) ist Politgeograf und Gründer von Sotomo, Zürich

 

chS: Ist die Corona-​Krise auch eine Föderalismuskrise?

BW: Ich bin immer vorsichtig, gleich von einer Krise zu sprechen, wenn es Probleme gibt. Zwar sind unsere Institutionen wie der Föderalismus oder die direkte Demokratie auf den Normalzustand ausgerichtet. Aber unsere Rechtsordnung hält auch Grundlagen, Instrumente und Verfahren spezifisch für Krisenzeiten bereit, wie z.B. das Epidemiengesetz. Den Föderalismus als System in Frage zu stellen, halte ich für falsch. Interessanterweise beobachten wir, dass die Systemkritik während der Corona-​Pandemie in vielen Ländern laut wurde – unabhängig davon, ob sie föderal oder zentralistisch organisiert sind. Fakt ist doch: Eine Krise stellt immer eine Belastungsprobe für die Institutionen dar. Man wird daraus lernen müssen, Föderalismus ist ja etwas Lebendiges.

MH: Die Coronakrise hat in der Schweiz womöglich etwas sichtbar gemacht, das schon länger zu beobachten ist: Der Föderalismus hat in der Bevölkerung einen schweren Stand. Viele Menschen sind auch hierzulande offensichtlich bereit, politische Macht stärker zu zentralisieren. Während das Interesse an eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen in den letzten Jahren konstant blieb, zeigen Stimm-​ wie auch die Wahlbeteiligungen bei kantonalen Angelegenheiten in der Tendenz nach unten. In unseren aktuellen Umfragen wird die Machtballung beim Bundesrat wenig kritisch gesehen. Hinzu kommt, dass sich aktuell eine klare Mehrheit der Bevölkerung sogar explizit gegen eine Verlagerung der Entscheidbefugnisse vom Bund zu den Kantonen hin ausspricht.

«Föderalismus fördert Autonomie und Selbstbestimmung. Das führt immer zu unterschiedlichen Lösungsansätzen.»

chS: Oft war zu hören und zu lesen, dass die Kantone total versagt haben. Haben wir ein strukturelles Problem?

NL: Aus meiner Sicht ist der Föderalismus ein Schönwettersystem. In den ersten Monaten dachte ich, wir würden den Crash des Föderalismus miterleben. Jeder versuchte, eine Lösung für die Krise zu finden. Kantone und Bund misstrauten sich gegenseitig. Dann bemühten sich die Kantone um ein gemeinsames Vorgehen. Nach einigen Monaten war zu sehen, dass sich die Prozesse rasch verbessert haben. Die Kantone schafften es, Konsultationen unter Direktorenkonferenzen innerhalb weniger Tage oder sogar Stunden durchzuführen! Insgesamt schneidet der Föderalismus ziemlich gut ab, wenn man bedenkt, dass man auf eine solche Krise sehr schlecht vorbereitet war.

BW: Föderalismus heisst nicht, dass alle Zuständigkeiten bei den Kantonen sind. Föderalismus bedeutet vielmehr die Aufteilung von Kompetenzen auf verschiedene staatliche Ebenen, auch auf den Bund. Eine föderale Staatsorganisation beinhaltet also nicht nur Vielfalt, sondern auch Einheit. Bei der Einführung des Epidemiengesetz waren sich alle einig, dass im Krisenfall Kompetenzen von den Kantonen zum Bund verschoben werden sollen. Was in der Theorie einfach tönt, ist in der Praxis voller Tücken, denn mit Kompetenzverschiebungen alleine ist es nicht gemacht: Es braucht Vollzugswissen und das haben in der Schweiz in erster Linie die Kantone und nicht der Bund, das wird in der Öffentlichkeit unterschätzt.

chS: Kritisiert wurde häufig der unterschiedliche Vollzug von Bundesrecht durch die Kantone. Es machte sich Unmut breit über die von Kanton zu Kanton unterschiedlichen Vorgaben. Auch die kantonalen Unterschiede bei den Härtefallhilfen z.B. waren für viele nicht nachvollziehbar.

MH: Unterschiede bedeuten auch Vielfalt und das ist ja per se nichts Schlechtes. Ich persönlich finde es schade, dass die Innovationskraft des Föderalismus nicht sehr viel stärker im Vordergrund steht und stattdessen nur auf die Unterschiede
fokussiert wird. Der Föderalismus bietet ja die Chance, in kleinen Räumen Dinge auszuprobieren und voneinander zu lernen. Das kam in den letzten Monaten definitiv zu kurz.

BW: Ich teile diese Meinung, zumal es in Sachen Wirksamkeit von Massnahmen wenig wissenschaftliche Evidenz gab. Lokale Experimente wären vor diesem Hintergrund umso wertvoller. Die Medien waren in dieser Hinsicht aber teilweise sehr populistisch unterwegs und reduzierten den Föderalismus auf kantonale Disparitäten und klagten diese an. Man kann es auch andersrum sehen: Föderalismus fördert Autonomie und Selbstbestimmung. Und Selbstbestimmung führt immer zu unterschiedlichen Lösungsansätzen. Wenn der Bund darauf verzichtet, einheitliche und klare Regelungen zu erlassen oder nur Minimalstandards vorgibt, wird es immer Unterschiede geben. Das dann den Kantonen vorzuwerfen, ist unfair. Diese undifferenzierte Sichtweise hat mich in Bezug auf die Härtefallhilfen extrem gestört. So wie die Regelung durch den Bund formuliert wurde, war absehbar, dass es im Vollzug zu grossen kantonalen Unterschieden kommen würde.

«Von Populismus zu sprechen, ist meiner Meinung nach übertrieben. Aufgabe der Medien ist es, die Institutionen zu kritisieren und zu kontrollieren.»

chS: Sie sprechen die Rolle der Medien an: Sind diese die eigentlichen Treiber der Föderalismuskritik?

NL: Von Populismus zu sprechen, ist meiner Meinung nach übertrieben. Aufgabe der Medien ist es, die Institutionen zu kritisieren und zu kontrollieren. Ich würde sogar sagen, dass wir dies in der ersten Phase der Pandemie nicht genügend getan haben. Wir standen hinter den Behörden und der Regierung. Niemand wagte es, den Bundesrat zu kritisieren. Mit dem Rückgang der Neuinfektionen und dem Wechsel in die besondere Lage wurden die Medien wieder kritischer.

BW: Aber die Kritik in den Medien am Föderalismus fiel doch sehr undifferenziert aus, teilweise hatte ich den Eindruck, dass einzelne Medienschaffende wenig Ahnung haben von den rechtlichen Grundlagen. Diese sind aber wichtig, denn hier werden die Spielregeln definiert. Für meinen Geschmack wurde da zu rasch von Versagen gesprochen. Ich bin sicher, dass sich die Verantwortlichen auf allen staatlichen Ebenen grösste Mühe geben bei der Bewältigung der Krise.

NL: Es wurde vielleicht am Ende zu viel kritisiert. Man darf aber nicht vergessen, dass der Föderalismus über die Aussagen von Politikerinnen und Politikern zum Ausdruck gebracht wird. Verschiedene Regierungsrätinnen und Regierungsräte sorgten mit Leaks für Polemiken und trugen so zur Verschärfung der Diskussion bei. In der öffentlichen Meinung sind die Kantone für den Föderalismus verantwortlich. Die Medien boten ihnen eine Plattform, indem sie Mitgliedern von Kantons-​ und Gemeinderegierungen zu Wort kommen liessen.

chS: Die Medien haben in Krisenzeiten aber auch eine wichtige Funktion, indem sie Informationen vermitteln. Wie beurteilen Sie hier die Leistungen?

NL: Trotz aller Kritik an die Schweizer Medien muss anerkannt werden, dass sie in dieser Krise eine äusserst wichtige Service-​public-Funktion übernommen haben. Sie haben die Informationen und Botschaften von Bund und Kantonen für die Bevölkerung verständlich gemacht. Sie haben auch den Datenjournalismus, die Infografiken, die Bearbeitung von Statistiken beträchtlich weiterentwickelt. In der Digitalisierung haben wir gigantische Fortschritte gemacht.

MH: In Bezug auf die Medienberichterstattung sollten wir die immer stärkere Medienkonzentration in der Schweiz nicht ausblenden: In den letzten Jahrzehnten sind unzählige eigenständige Redaktionen verschwunden, unser Mediensystem bildet die Kleinteiligkeit des Schweizer Politiksystems immer weniger ab. Die Kritik am Föderalismus und an den Kantonen kam in erster Linie von den zentralisierten Grossredaktionen.

«Die Kritik am Föderalismus und an den Kantonen kam in erster Linie von den zentralisierten Grossredaktionen.»

chS: Bleibt zum Schluss die Frage: Welche Lehren sind aus dieser Krise mit Blick auf den Föderalismus zu ziehen?

BW: Das Nein von Volk und Ständen zum EWRBeitritt der Schweiz im Jahre 1992 war Auslöser der letzten grössten Föderalismusdebatte in der Schweiz. In der Folge wurde das Mitwirkungsgesetz erlassen und die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) gegründet. Ich denke, dass es nun wieder ein paar Änderungen braucht: Die Kantone müssen ihre Mitwirkung in Krisenzeiten überdenken. Der Mitwirkungsföderalismus ist in der Tat in erster Linie für schönes Wetter und weniger für stürmische Zeiten konzipiert worden. Die Kantone tun gut daran zu überlegen, wie sie innert kürzester Frist rasch zu fundierten, in der Gesamtregierung abgestützten Stellungnahmen kommen. Es muss geklärt werden, welche Rolle dabei die KdK sowie die Fachdirektorenkonferenzen spielen sollen: In "normalen" Zeiten übernehmen sie eine enorm wichtige Konsolidierungsfunktion. Schliesslich wird es Anpassungen im Epidemiengesetz brauchen, da dieses die Finanzierungsfrage völlig ausblendet.

NL: Die Entscheidungsprozesse und die Aufgabenverteilung zwischen Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden sollten im Krisenfall überdacht werden. Die bisherigen Krisenübungen waren ein Witz und vermochten die Schwächen nicht aufzudecken: Bei der letzten Übung beispielsweise fanden es alle völlig normal, dass noch Faxgeräte eingesetzt wurden! Aus Sicht der Medien ist zu hoffen, dass die Kantone ihre Krisenkommunikation verbessern und aktiver und transparenter kommunizieren und geeinter auftreten, anstatt jeder für sich allein zu sprechen. Die Bevölkerung hat in Krisenzeiten einen enormen Informationsbedarf, der häufig unterschätzt wird.

MH: Ich bin gespannt darauf, ob die Krise genutzt werden kann, um in der Schweiz in Sachen Digitalisierung und E-​Government endlich einen grossen Schritt nach vorne zu machen. Das Konstrukt der besonderen Lage nach Epidemiengesetz muss sicher angeschaut werden: Der Bundesrat hat hier den Föderalismus fast ein wenig in die Falle laufen lassen, als er im Sommer entschieden hatte, die Führung komplett an die Kantone abzugeben. Die Kantone wiederum haben die einer Pandemie eigene Dynamik wohl unterschätzt, indem sie zu lange in zu vielen Fragen auf lokal adaptierte Lösungen gepocht und sich kaum mit Nachbarskantonen abgesprochen haben.

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