Sprache und Verständigung in der viersprachigen Schweiz

Prof. em. Dr. Marco Baschera, 15. April 2024

Globales Englisch findet in der viersprachigen Schweiz immer mehr seinen Platz. Doch in einem Land wie der Schweiz geht es um mehr als das gegenseitige Verstehen in irgendeiner Sprache. Die Literatur bemüht sich seit jeher um den sprachbewussten Austausch von Gedanken und um ein mehrsprachiges Miteinander. Dafür braucht es gemeinsame Ankerpunkte wie die Plattform Viceversa.

In der Schweiz ist der Vormarsch des globalen Englisch («Globisch») auf Kosten der gelebten Mehrsprachigkeit offenkundig. Es wird in zunehmendem Masse zur Lingua franca – und dies nicht nur in wirtschaftlichen und universitären Kreisen, auch in der Kultur. Literaturveranstaltungen in der Deutschschweiz stellen oft deutschsprachige Literatur in den Vordergrund. Die anderen Landessprachen werden, wenn sie überhaupt noch erscheinen, ins Deutsche übersetzt. Daneben werden immer wieder Diskussionen auf Englisch geführt. Es ist vermehrt die Rede von der viel-, anstelle der viersprachigen Schweiz. Dies entspreche mehr der modernen globalisierten Schweiz.

Über Verständigung und Universalität

Die Frage stellt sich: verbindet das «Globisch» oder trennt es? Für viele Menschen ist das eine rhetorische Frage, denn für sie ist Sprache ein Instrument, das erlaubt, feststehende Inhalte mit anderen auszutauschen. Es soll gewährleisten, dass die Dinge über Grenzen hinweg beim Namen, dem einen englischen Namen, benannt werden. Dadurch könne die Vielheit der Sprachen umgangen und weltweit problemlos Verständigung betrieben werden.

Aber wie steht es um diese Abkürzung? Was heisst zum Beispiel «Geist» auf Englisch? «Mind» oder «spirit»? Und entspricht das geläufige «mind» wirklich dem deutschen «Geist»? Meint das französische «esprit» nicht auch den witzigen Geistesblitz? Und wie steht es um den italienischen «spirito», das griechische «pneuma», das hebräische «ruah» usw.?

Solche Unterschiede werden durch den pragmatischen Ansatz der einen Universalsprache überdeckt, was zu einer trostlosen Eindimensionalität führen kann. Der Wert der Biodiversität ist für die meisten selbstverständlich. Es ist erstaunlich, wie wenig die Fragen rund um die Diversität der Sprachen, der Kulturen und des Denkens beachtet werden. Das «Globisch» gerinnt weltweit zu der Fremdsprache. Sie soll den Zugang zum Fremden und zum Anderen schlechthin ermöglichen.

Miteinander oder Nebeneinander

Der entscheidende Unterschied zwischen einem rein pragmatischen Begriff der Verständigung und dem dialogischen Interesse an Kultur und Sprache des anderen wird eingeebnet. Dies ist nicht nur ein sprachphilosophisches Problem, sondern kann gerade für ein mehrsprachiges Land wie die Schweiz auch handfeste (staats-)politische Konsequenzen zeitigen.

Wieviel Sprachpragmatismus erträgt ein mehrsprachiges Land, das vom Zusammenhalt zwischen den Landesteilen und nicht bloss von deren Nebeneinander lebt? Wo sind die Persönlichkeiten, die sich nicht nur für ihre Sprachgemeinschaft, sondern für eine gelebte Mehrsprachigkeit unter den vier Landessprachen einsetzen? Wieso scheint das Frühfranzösisch in Teilen der Deutschschweiz einen schweren Stand zu haben, während das Frühenglisch unbestritten bleibt? Wir müssen aufpassen, dass die für die Schweiz fundamentale Mehrsprachigkeit nicht zum blossen Mythos verkommt.

Wieviel Sprachpragmatismus erträgt ein mehrsprachiges Land, das vom Zusammenhalt zwischen den Landesteilen und nicht bloss von deren Nebeneinander lebt?

Kritisches Denken und Lernen dank Literatur

In diesem Kontext spielt die Literatur als sensibles Medium der Sprache eine besondere Rolle. Dies nicht nur, weil sie die Leserinnen und Leser dank der Infragestellung von Konventionen zum lustvollen, kritischen Denken anregt und allgemein zur Bereicherung des Wissens und dadurch zu Bildung führt. Vielmehr zeigt sie auf, dass Sprachen nicht nur als funktionale Instrumente der Mitteilung dienen. Ohne die Literatur würden Sprachen verwaisen, Wörter nur noch auf eine blosse Abfolge von Zeichen reduziert, die auf etwas scheinbar allgemein Gegebenes und weltweit Austauschbares hindeuten.

Literatur hebt die Sprachvergessenheit auf und schärft den Blick auf die Eigenheit der Sprachen, auf ihre besonderen Weisen des Sagens, die nicht die Beliebigkeit austauschbarer Zeichen haben. In ihr kann ein Wortlaut verschieden ausgelegt werden, was die Sprachen gerade am Leben erhält. Ihre Mehrdeutigkeit ist jedoch kein Mangel an Präzision. Im Gegenteil kann diese dank der Erinnerung an andere Bedeutungen der Wörter einen Echoraum erzeugen, in welchem der Text eine grössere Aussagekraft erhält. Dadurch wird die Aufmerksamkeit beim Lesen vermehrt auf den einen und unersetzlichen sprachlichen Vollzug gelenkt. 

Literatur zeigt auch, dass Sprachen nicht in sich geschlossene, austauschbare Zeichensysteme, sondern in lebendiger Weise auf andere Sprachen hin geöffnet sind. Mehrsprachigkeit ist der Literatur immer schon eigen. Dies ist auch eine Chance für einen lebendigen Kultur- und Denkraum der viersprachigen Schweiz. Dieser Raum steht auch für alle anderen sprachlichen Einflüsse der multikulturellen Schweiz offen. Durch die sprachliche Verbundenheit mit Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien ist ihre Internationalität im Herzen Europas als eine Art von lebendigem Kontrapunkt in der globalen Polyphonie gewährleistet.

Viceversa und kritische Kulturberichterstattung

Den nationalen Raum für Verständigung belebt seit siebzehn Jahren Viceversa, eine Plattform, die eine entscheidende Brückenfunktion für die Schweizer Literatur hat. Das Projekt des Vereins Service de Presse Suisse publiziert wöchentlich neue Beiträge: Rezensionen, themenzentrierte Artikel, Interviews. Es veröffentlicht praktisch in Echtzeit Fakten über Autorinnen und Autoren ebenso wie Übersetzerinnen und Übersetzer der Schweiz - unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit - und animiert so den Austausch über die Sprachgrenzen hinweg.

Viceversa wurde vom Bundesamt für Kultur (BAK) finanziell unterstützt und konnte mit dieser Grundlage zusätzliche Mittel bei Kantonen und Stiftungen einwerben. In Folge einer Verordnungsänderung hat das BAK auf Ende 2024 seine Unterstützung eingestellt. Wäre es nicht gerade am BAK, den sprachübergreifenden Kultur- und Denkraum schweizweit noch weiter anzuregen und zu fördern? Dasselbe gilt für die Unterstützung der kritischen Kulturberichterstattung, die seit Jahren am Verschwinden ist.

Wer aus dem Schweizer Kulturleben in seiner Vielfalt und regionalen Dynamik berichten will, kann sich nicht allein auf zahlende Leserinnen und Leser verlassen. Dafür ist unser Land zu kleinteilig. Die Zeit drängt. Was muss geschehen, damit wichtige Ankerpunkte des Literatur- und Denkraums in der vielsprachigen Schweiz erhalten bleiben?


Zum Autor

Marco Baschera ist emeritierter Titularprofessor für Französische und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Vizepräsident der Oertli-Stiftung.

 

Top