Die Bundesverfassung von 1848: Gründungsakt der modernen Schweiz
Olivier Meuwly, 12. September 2023
Einführung des Zweikammersystems
Wenngleich die konservativen Kantone Zeit brauchten, um die neuen Institutionen zu akzeptieren, legte die Verfassung den Grundstein für die spätere Versöhnung. Dank des Zweikammersystems mit einem das Schweizer Volk in seiner Einheit vertretenden Nationalrat und dem aus zwei Abgeordneten pro Kanton bestehenden und mit den gleichen Rechten ausgestatteten Ständerat ebnete die Verfassung den Weg für ein Miteinander der ehemaligen Gegner des Sonderbunds und ihrer gegensätzlichen Sicht auf die Geschichte und die Zukunft der Schweiz. Das teilweise nach dem amerikanischen Vorbild ausgestaltete und im Anschluss an lebhafte Debatten beschlossene Zweikammersystem stellte zweifellos den Eckpfeiler des neuen institutionellen Aufbaus der Eidgenossenschaft dar.
Das am 12. September verabschiedete Werk darf jedoch nicht allein auf diesen Aspekt reduziert werden. Die Verfassung löste auch das Problem, wie das Land regiert werden sollte. Die einst von der Tagsatzung als reiner Versammlung von Botschaftern ohne Macht geführte, «neue» Schweiz besass nun einen siebenköpfigen Bundesrat, der sich im Namen der Schweiz äussern und deren Interessen in einer mitten im Chaos steckenden Welt vertreten konnte, während die aufgrund der Gegenreaktionen in den Monarchien ins Exil gezwungenen politischen Flüchtlinge in der Schweiz wohlwollend aufgenommen wurden.
Schweizer Staatsbürgerschaft
In diesem Zusammenhang entstand auch die Schweizer Staatsbürgerschaft. Diese ging über das bisher ausschliesslich auf der Zugehörigkeit zu einer Gemeinde und einem Kanton basierende Nationalgefühl hinaus. Und noch eine weitere institutionelle Reform wurde in Gang gesetzt: Während der Bundesvertrag von 1815 keinerlei Revisionsbestimmung enthielt, wurde nun ein Verfahren geschaffen, bei dem das Volk auf Wunsch an der Inangriffnahme oder auf jeden Fall an der Ratifizierung zusammen mit den Kantonen beteiligt wurde. Das Verfahren war allerdings weiterhin schwerfällig: Nur eine Totalrevision war möglich, und der Mechanismus wurde selten angewandt. Die Volksinitiative kam erst später.
Binnenmarkt
Ab jetzt verfügten die Bürgerinnen und Bürger der Eidgenossenschaft auch über landesweit anerkannte Grundrechte wie das Vereinigungsrecht und die Niederlassungsfreiheit, auch wenn die jüdische Bevölkerung noch bis 1866 warten musste, um die gleichen Rechte wie die Christen zu erhalten. Die Niederlassungsfreiheit spielte auch eine wichtige Rolle beim Umbau der Schweiz zu einem echten «Binnenmarkt» ohne die zahlreichen inneren Grenzen, die den wirtschaftlichen Austausch auf dem Schweizer Staatsgebiet hemmten. Entsprechend wurden die Zölle abgeschafft. Gebühren durften jetzt nur noch an den Aussengrenzen der Schweiz erhoben werden und bildeten bis ins 20. Jahrhundert die Haupteinnahmequelle des Bundes.
Ferner sorgte die Verfassung für eine in der Praxis recht schnell vollzogene Vereinheitlichung der Währungen und des Postwesens, während die Harmonisierung bei den Massen und Gewichten noch eine Zeit lang auf sich warten liess. Mit dem Ziel, der Eidgenossenschaft die Mittel für die Verteidigung ihrer Unabhängigkeit an die Hand zugeben, wurde hingegen besonders auf das Thema Armee geachtet. Allerdings gebar der Berg nur eine Maus: Um die föderalistischen Befindlichkeiten nicht zu verletzen und die fragilen Bundesfinanzen nicht zu gefährden, wurde letztlich nur die stärker zentralisierte Ausbildung auf den Bund übertragen. Die Neutralität wurde eher als politisches Instrument betrachtet und nicht in die Liste der Ziele des Staates aufgenommen.
Flexible und dauerhafte Struktur
Die 1848 eingeführte Verfassungsstruktur wurde nie grundlegend geändert. Sie besass präzise Grundsätze und erwies sich als ausreichend flexibel, um die vielen späteren, durch die gesellschaftlichen Entwicklungen geforderten Anpassungen aufzufangen. Zu Beginn der 1850er-Jahre gab es jedoch hitzige Diskussionen: Sollte die Schweiz stärker zentralisiert werden? Daraus ergab sich eine Reihe von Reformen, die zu entscheidenden Fortschritten wie der Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums im Zuge der Totalrevision von 1874 und anschliessend der Volksinitiative führten. Der Inhalt der Verfassung konnte sich so unter der ständigen Aufsicht durch das Volk als dem obersten Souverän weiterentwickeln.
Zum Autor
Olivier Meuwly arbeitet in der Waadtländer Kantonsverwaltung und ist Autor mehrerer Werke über die Geschichte des Waadtlandes und der Schweiz sowie die Geschichte der politischen Ideen und Parteien. Sein neustes Werk trägt den Titel «Une brève histoire constitutionnelle de la Suisse» (Alphil, 2023).