Ein Balanceakt für die Kantone
Mélanie Haab, 10. November 2022
Soziale Netzwerke und Demokratie I: Fast alle Kantone sind in mindestens einem sozialen Netzwerk aktiv – häufig in mehreren. Was tun sie dort? Kann der Föderalismus davon profitieren? Ein Überblick über die verschiedenen Praktiken, die den Behörden mehr Bürgernähe verschafft und ihnen ermöglicht haben, auch kreative Lösungen zu finden.
Der zweite Teil dieses Artikels über den Einfluss der sozialen Netzwerke auf die demokratische Mitwirkung ist hier zu lesen.
Ende der 2000er-Jahre fanden Facebook und Twitter Eingang in den Alltag einer breiten Bevölkerung. Auch die ersten Kantone eröffneten Accounts und die übrigen folgten rasch. Heute sind die sozialen Netzwerke für die Demokratie unverzichtbar geworden. Sie sind Teil der digitalen Strategie der Behörden, die in vielen Fällen eine Nutzungsanleitung und eine «Netiquette» herausgegeben haben. Als vorerst letzter Kanton ist Appenzell Innerrhoden im April 2022 auf Twitter gestartet. Der Kanton Schaffhausen überlegt sich, ab 2023 auf soziale Medien aktiv zu werden.
Ist es nicht heikel, auf diesen Plattformen zu kommunizieren? «Jeder Kommunikationskanal bietet Chancen und Risiken: die Möglichkeit, nahe bei der (digitalen) Bevölkerung zu sein, dort, wo sie sich informiert, aber auch das Risiko, kritisiert zu werden – und im schlimmsten Fall von der Mehrheit kritisiert zu werden. Meiner Ansicht nach überwiegen die Vorteile die Nachteile», sagt Tobias Keller, Experte bei gfs.bern.
Dialog, staatliche Würde und das Duzen
In diesen Chartas für die Nutzung der sozialen Netzwerke sind deren jeweilige Rolle (Behördeninformationen, Austausch mit der Bevölkerung, Personaleinstellung ...), die Tonalität der Posts oder die Art und Weise, wie auf Kommentare reagiert wird, festgelegt. «Das Informationsgesetz verlangt von den Behörden, dass sie <über alle Tätigkeiten von allgemeinem Interesse zielgruppengerecht informieren>. Wir tun dies mit Medienmitteilungen, aber auch direkt in den sozialen Netzwerken», erklärt Simon Koch, stellvertretender Leiter des Amts für Kommunikation des Kantons Bern. «Diese Netzwerke sind aber nicht einfach ein Schaufenster: Um glaubwürdig zu sein, braucht es auch einen Dialog und eine Debatte. Sie helfen zudem bei der Imagepflege und ‑profilierung für den Kanton. Beispielsweise indem die grossen Gesellschaftsfragen aufgegriffen werden.» Ein ehrgeiziges Programm, das ein grosses Kommunikationsteam benötigt.
Umfassende Überlegungen liegen auch der Strategie für Aussenbeziehungen und Kommunikation des Kantons Neuenburg zugrunde, die im März 2017 beschlossen wurde. Sie sieht vor, die Organisation mit der Digitalisierung ihrer Gesamtstrategie ins 21. Jahrhundert zu führen, insbesondere über die sozialen Netzwerke. «Die Herausforderung besteht darin, der Unmittelbarkeit, die mit den digitalen Entwicklungen einhergeht, mit staatlicher Würde zu begegnen», meint der für den kantonalen Account zuständige Grégoire Corthay.
St. Gallen seinerseits «verzichtet auf Höflichkeitsformeln und duzt die Nutzerinnen und Nutzer, um auf Augenhöhe zu sein». Das wurde von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen, wie Sprecherin Olivia Meier bestätigt. Tobias Keller von gfs.bern erinnert daran, dass das Duzen auf diesen Kanälen eher die Norm darstellt. «Es kann sogar ein Vorteil sein, um bestimmte Zielgruppen zu erreichen.» Alle anderen Kantone und der Bund verwenden auf ihren Kanälen die Sie-Form.
Der Austausch, den die Behörden wünschen, scheitert mitunter an der praktischen Realität. «Der Dialog mit der Bevölkerung war unser Hauptziel, aber wir haben festgestellt, dass wir nicht genügend Ressourcen haben», sagt Roland Wermelinger, Medienbeauftragter des Kantons Glarus. «Komplexer als erwartet», meinen auch andere kantonale Verantwortliche. Schwierig sei es manchmal auch, intern von der Notwendigkeit einer Profilierung auf diesen Plattformen zu überzeugen.
Informationsaustausch
Alle Kantone verfolgen, was ihre Nachbarkantone oder Kantone mit ähnlicher Demographie tun. Sie stehen untereinander in Kontakt und teilen die Erfahrungen, die sie mit diesen Plattformen gemacht haben. Das hat Appenzell Innerrhoden ermutigt, nach einer Beobachtungsphase dort selbst aktiv zu werden. Die ersten Erfahrungen sind «positiv». Dennoch wird keine überregionale Strategie ins Auge gefasst.
Die Kantone Graubünden und St. Gallen haben ihre Digitalstrategie gemeinsam entwickelt und kommunizieren nach demselben Schema: Teaser–Text–Icons–Link–Bild. Sie arbeiten auch für Online-Sensibilisierungskampagnen zusammen. In der Romandie hat Freiburg die Kantone Waadt und Genf kontaktiert, um über bestimmte gemeinsame Problemstellungen im Bereich der digitalen Kommunikation, unter anderem der sozialen Netzwerke, zu diskutieren.
«Ein Teil meiner Arbeit als Verantwortlicher für soziale Netzwerke besteht darin, zu schauen, welche guten oder weniger guten Praktiken die anderen Kantone anwenden. Ich beobachte zum Beispiel, was der Kanton Genf anbietet», sagt Grégoire Corthay. «Wir stehen mit niemandem im Wettbewerb, sondern haben eine gemeinschaftliche Vision. Wir teilen Inhalte anderer Accounts, zum Beispiel von Jura3Lacs, aber auch der Städte des Kantons oder anderer Institutionen. Auf Instagram verwenden wir den Hashtag #Instaneuch.»
Soziale Netzwerke und Föderalismus
Können diese vorerst vor allem bilateralen Kooperationen zur Föderalismusförderung beitragen? St. Gallen bejaht die Frage: «Es ist eine Möglichkeit für den Kanton, mehr Bürgernähe zu schaffen. Und auch, um den Bürgerinnen und Bürgern den Föderalismus näherzubringen.» Simon Koch vom Kanton Bern stellt fest: «Als Informationsträger tragen die Netzwerke zur Meinungsbildung bei und spielen in unserem demokratischen und föderalen System eine positive Rolle. Sie haben aber auch eine dunkle Seite – Fake News und Manipulationen. Das ist Gift für unsere Demokratie und ihren Föderalismus, aber auch ein guter Grund dafür, dass die Behörden in diesen Medien präsent sind, um eine Alternative zu Falschinformationen zu bieten.»
Mehrsprachige Netzwerke
Für mehrsprachige Kantone kommt die Komplexität der Sprache hinzu. Braucht es einen Kanal pro Sprache, um den Feed nicht mit zu vielen Posts zu überlasten? Oder sollen die Inhalte stattdessen auf einer Seite gebündelt werden? Jeder hat sein eigenes Rezept. Graubünden hat sich für einen dreisprachigen Twitter-Account entschieden. Bern und Freiburg hingegen haben je einen Account pro Sprache.
Da Facebook mit einer automatischen Übersetzung funktioniert, haben Graubünden und Freiburg nur einen Account, jeweils in der Hauptsprache (Deutsch bzw. Französisch), und Antworten werden in der Sprache der Nutzerinnen und Nutzer gegeben – es sei denn, ein Post erfordere ein spezifisches Vorgehen. «Unsere Moderatorinnen und Moderatoren müssen mindestens über das Niveau B2 in der anderen Sprache verfügen, um alle Kommentare beantworten zu können», erklärt Aurélie Leyendecker, Verantwortliche für digitale Kommunikation in Freiburg. Dank eines grossen Kommunikationsteams, das im Turnus arbeitet, betreibt Bern zwei Facebook-Kanäle (D / F) mit zum Teil unterschiedlichen Inhalten.
«In den sozialen Netzwerken ist es wichtig, dass die Informationen einfach und leicht zugänglich sind, und dafür müssen sie in der Ausgangssprache geschrieben sein», sagt Tobias Keller von gfs.bern. «Die Mehrsprachigkeit verlangt also zusätzliche Anstrengungen.»
Moderation und Trolle
Die sozialen Netzwerke und die grossen Gesellschaftsfragen machen an den nationalen Grenzen nicht halt. Ein einfacher Post kann eine Polemik entfachen. Beim Coronavirus, beim Wolf oder bei der Asylfrage explodiert die Zahl der Kommentare, stellt der Bündner Mirco Frepp fest. «An den Tagen, an denen solche Meldungen publiziert werden, reservieren wir das verfügbare Personal explizit für das Monitoring der Netzwerke.» Häufig interagieren die Nutzerinnen und Nutzer miteinander und neutralisieren die Trolle (A.d.R.: Personen, welche die sozialen Netzwerke mit widerlichen, beleidigenden oder rassistischen Kommentaren überfluten), bemerkt Grégoire Corthay vom Kanton Neuenburg.
Auf dem Höhepunkt der Pandemie verzichtete Glarus sogar auf die Nutzung von Facebook. Es war nicht mehr möglich, die zu grosse Zahl von Hasskommentaren zu bewältigen. In der Regel aber sind «die sozialen Netzwerke auf Grund ihrer Dynamik eine ideale Ergänzung zur offiziellen Krisenkommunikation», meint Olivia Meier vom Kanton St. Gallen. Abgesehen von den hochaktuellen Themen haben die Kantone eher selten mit Trollen zu tun. Kritiken geben häufig vielmehr Anlass, einen Entscheid genauer zu erklären.
Die meisten Kantone versuchen, Kommentare innerhalb weniger Stunden zu beantworten. Dazu verfügen aber nicht alle über die gleichen Möglichkeiten – einige Kantone haben für die Betreuung der Netzwerke weniger als ein Vollzeitäquivalent zur Verfügung, andere können auf ein ganzes Team zählen.
Wie sieht es aus bei der ch Stiftung und der KdK?
Die ch Stiftung hat ihre digitale Strategie vor drei Jahren vollständig überarbeitet. Sie hat ihre Website umgestaltet, die visuelle Kommunikation angepasst und Profile in den sozialen Netzwerken lanciert. Im Oktober 2019 wurde der Twitter-Account @FondationCH eröffnet, einige Wochen später folgte der Auftritt auf LinkedIn unter dem Namen ch Stiftung/Fondation ch/Fondazione ch.
Eine Facebook-Seite des Festivals für Übersetzung und Literatur aller-retour existierte bereits, wurde aber nur noch sporadisch gepflegt. Diesen Sommer entstand daraus die Seite @Collectionch mit News zur Literatur aus der Schweiz in Übersetzung. Diese drei Accounts bieten Inhalte in mehreren Sprachen.
Die Medienmitteilungen und die Website der Stiftung sind in drei Sprachen verfügbar. In den sozialen Netzwerken sind Thema und Zielgruppe massgebend für die Sprache, die verwendet wird. Es sind schon Posts auf Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch und Englisch erschienen.
Im Herbst 2021 überarbeitete auch die Konferenz der Kantonsregierungen ihre digitale Strategie, gestaltete ihre Website neu und eröffnete den Twitter-Account @KdK_CdC. Ihre Tweets werden in der Regel auf Deutsch und auf Französisch abgesetzt.
Zur Autorin
Mélanie Haab ist Kommunikationsbeauftragte bei der ch Stiftung. Sie besitzt einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Freiburg. In vormaliger Tätigkeit hat sie für verschiedene Medien als Journalistin gearbeitet.