Expertinnen über die Rolle vom Föderalismus

Wirkte der Föderalismus in der Schweiz als Bremse oder eher als Beschleuniger für die politische Partizipation der Frauen?

«Die Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene hat den Ausgang der Abstimmung von 1971 durchaus beeinflusst»

Es ist wohl nicht möglich, diese Frage eindeutig mit «ja» oder «nein» zu beantworten. Wie auch in vielen anderen Fragen ermöglichte der Föderalismus differenzierte Antworten, dies auch in zeitlicher Hinsicht. Jedenfalls zeigte das in einigen Kantonen bereits vor der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene praktizierte Stimmrecht für Frauen, dass die (auch allgemein nicht sehr überzeugenden) Argumente gegen ein Frauenstimmrecht der Grundlage entbehrten. Insofern dürfte die Möglichkeit für die Kantone, eigenständig und unabhängig von der Situation auf Bundesebene, das Frauenstimmrecht einzuführen, durchaus eine Rolle für den Ausgang der Abstimmung von 1971 gespielt haben. Ganz allgemein gilt auch in Fragen der politischen Rechte (wie auch das Ausländerstimmrecht zeigt), dass in den Kantonen mit Lösungen experimentiert werden kann, womit auch Entwicklungen auf Bundesebene angestossen werden können.

Zur Autorin

Astrid Epiney ist seit 2015 Rektorin der Universität Freiburg. Zudem ist sie ordentliche Professorin für Völkerrecht, Europarecht und schweizerisches öffentliches Recht an der Universität Freiburg und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Europarecht.


«Gleichstellungsfragen tangieren häufig Bereiche in kantonaler Zuständigkeit»

Die Instrumente des Föderalismus stellten bisher bezüglich der Geschlechtergleichstellung eher einen Hemmschuh dar. Dies kann insbesondere auf die überproportionale Stärke, welche der Föderalismus den kleineren katholischen Kantonen zuschreibt, und auf die in diesen Kantonen stärker verankerten konservativen Wertvorstellungen zurückgeführt werden. Besonders eindrücklich zeigte sich die Vetomacht der Kantone bei der Volksabstimmung zum Familienartikel 2013, als sich eine Mehrheit der Kantone gegen die Volksmehrheit durchsetzte und damit eine Verpflichtung der Kantone zur Schaffung eines bedarfsgerechten Angebots an familien- und schulergänzenden Betreuungsplätzen verhinderte.

Vor allem in früheren Jahren gab sich der Ständerat auch innovationshemmender als der Nationalrat und verhinderte damit gleichstellungspolitische Neuerungen. Während den Beratungen zur Eherechtsreform wehrte er sich in den 1980er Jahren etwa erfolgreich gegen das Recht der Frau, ihren Namen auf Antrag behalten zu dürfen.

Hinzu kommt, dass Gleichstellungsfragen häufig Bereiche tangieren, bei denen dem Bund keine Regelungskompetenz zukommt – insbesondere bei Fragen zur Bildung und Erziehung. So verfasste die Erziehungsdirektorenkonferenz bereits 1972 Empfehlungen zur Beseitigung von Ungleichbehandlungen der Mädchen in der Schulbildung. Im Jahr 1991 hatte jedoch erst knapp die Hälfte der Kantone alle formalen Ungleichheiten beseitigt.

Umgekehrt wirkte der Bund teilweise aber auch bremsend auf innovationsfreudige Kantone, beispielsweise indem er ihre Kompetenz für weiterführende Massnahmen verneinte. So verweigerte er ihnen etwa in den frühen 1980er Jahren die Möglichkeit zur Einführung des straflosen Schwangerschaftsabbruchs. Und gerade vor wenigen Wochen lehnte der Ständerat die Kompetenz der Kantone zur Einführung einer Elternzeit ab.

Zu den Autorinnen

Marlène Gerber und Anja Heidelberger sind Co-Direktorinnen von Année Politique Suisse, der Chronik zur Schweizer Politik am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Die Entwicklung der Gleichstellungspolitik in der Schweiz beleuchteten sie jüngst im Sammelband «Dem Laufgitter entkommen: Frauenforderungen im Parlament seit 1950».


«Der Föderalismus wirkte vorwiegend bremsend»

Der Föderalismus wirkte auf die Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz vorwiegend bremsend.

Er verlangsamte erstens die Entwicklungen auf Bundesebene. Wiederholt verwiesen Bundesrat und Parlament auf die anstehenden kantonalen Abstimmungen, die es abzuwarten galt, und als diese negativ ausfielen, dienten diese Resultate als Argument, um nicht auf der eidgenössischen Ebene aktiv zu werden.

Zweitens benutzte die Gegnerschaft den Föderalismus immer wieder als Mittel, um die Frage der Einführung des Frauenstimmrechts auf die jeweils andere föderale Ebene zu verschieben und damit zu vertagen.

Drittens räumte der Föderalismus den bevölkerungsschwachen katholisch und rural geprägten Kantone, die tendenziell gegen das Frauenstimmrecht eingestellt waren, auf Bundesebene ein überproportionales Gewicht ein. 

Viertens hielt der Respekt vor der Kantons- und Gemeindeautonomie die Bundesbehörden 1971 davon ab, das Frauenstimmrecht verpflichtend für alle Staatsebenen einzuführen. Damit verzögerte sich die volle politische Gleichstellung der Schweizerinnen um fast zwei Jahrzehnte.

In zweierlei Hinsicht gab der Föderalismus dem Frauenstimmrecht auch Impulse:

Als 1959 die erste eidgenössische Abstimmung anstand, gab das dem Kanton Waadt den Anstoss, gleichzeitig eine kantonale Vorlage zu präsentieren, damit – so die Argumentation – die föderale Ordnung, «von unten nach oben», bewahrt werden könne.

Ferner zeigte das Beispiel der Pionierkantone, dass die Einführung des Frauenstimmrechts zu keiner der angekündigten Katastrophen geführt hatte.

Zur Autorin

Brigitte Studer ist emerierte Professorin für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern und Co-Autorin des Buchs «Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848-1971».

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