Föderalismus: Fluch oder Segen auf dem Weg zum digitalen Staat?

Thomas Minger, 25. Oktober 2022

Als Erklärung für den digitalen Rückstand der Schweiz werden oft die föderalen Strukturen genannt. Grundsätzlich gelten die Vorteile eines wettbewerbsorientierten Föderalismus aber auch in der digitalen Welt. Deshalb verfolgen Bund, Kantone und Gemeinden bei der Digitalisierung einen kooperativen Weg und haben dazu die "Digitale Verwaltung Schweiz DVS" gegründet.

Die Schweiz gehört zu den innovativsten und wettbewerbsfähigsten Ländern weltweit. In entsprechenden Rankings belegt sie regelmässig Spitzenplätze. Zahlreiche Studien zeigen, dass föderale Staatsstrukturen die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes stärken. Gerade die Schweiz mit ihren ausgeprägt dezentralen Strukturen hat von ihrem wettbewerbsorientierten Föderalismus bisher wirtschaftlich klar profitiert. Im Bereich der Digitalisierung hinkt die Schweiz der internationalen Entwicklung jedoch deutlich hinterher. In den letzten Jahren konnten zwar einige Fortschritte erreicht werden: z.B. das gemeinsame Behördenportal ch.ch von Bund, Kantonen und Gemeinden, die Applikationen eUmzug und eBau oder die elektronische Steuererklärung. Im E-Government Benchmark der EU landet die Schweiz aber abgeschlagen auf Rang 32 von 36.

Die Vorteile föderaler Strukturen gelten auch in der digitalen Welt.

Als Erklärung für diesen Rückstand werden immer wieder die föderalen Strukturen der Schweiz genannt. Dies ist nicht ganz abwegig. Die fragmentierte staatliche Organisation lässt die Vorteile der Skalierbarkeit von digitalen Dienstleistungen weniger leicht zum Tragen kommen. Die 26 Kantone und die rund 2200 Gemeinden treiben eigene, bisher zu wenige koordinierte digitale Lösungen voran oder verzichten im Zweifelsfall aufgrund hoher Fixkosten sogar gänzlich darauf. Zudem sind die Kontakte der hiesigen Behörden zu den Nutzerinnen und Nutzern staatlicher Dienstleistungen vielfältiger und individueller gestaltet, als bei stark zentralisierten Staaten. Darunter kann die Zugänglichkeit und Benutzerfreundlichkeit digitaler Dienstleistungen leiden. Ein Konzept wie "Once Only", wonach die Bevölkerung und Unternehmen bestimmte Standardinformationen gegenüber dem Staat nur einmal eingeben müssen, lässt sich beispielsweise weniger leicht umsetzen.

Gleichzeitig hat die Corona-Pandemie einen veritablen Digitalisierungsschub ausgelöst. Neben der Wirtschaft verlangt inzwischen auch die Bevölkerung nach deutlich mehr Online-Behördendiensten. In diesem Kontext wird zunehmend gefordert, dass die Digitalisierung des Staates stärker durch den Bund gesteuert wird und dass dieser dafür mehr Kompetenzen erhalten soll. Dabei laufen wir jedoch Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn die Vorteile föderaler Strukturen gelten auch in der digitalen Welt: Wettbewerb kann hier genauso Innovationen und lokal angepasste, bedarfsgerechte Lösungen fördern. Scheitert ein IT-Projekt in einem Kanton oder einer Gemeinde, ist der finanzielle Schaden in aller Regel wesentlich überschaubarer als bei Bundesprojekten. Erfolgreiche lokale oder kantonale Lösungen wiederum werden andernorts kopiert und setzen sich mit der Zeit durch.

Die Anwendung eUmzug ist ein gutes Beispiel für eine gemeinsame Dienstleistung von Bund, Kantonen und Gemeinden.

© Ketut Subiyanto - pexels

Kantone und Gemeinden sind nahe an der Bevölkerung

Der Grossteil der Behördenkontakte der Bevölkerung findet nach wie vor auf kantonaler und kommunaler Ebene statt. Die Nähe zur Lebenswelt der Nutzerinnen und Nutzern ist also auch im digitalen Raum wichtig für ein gutes Verständnis ihrer Anliegen und Bedürfnisse. All dies spricht eher für einen "bottom-up" bzw. föderalen Ansatz. Zudem wirkt die Digitalisierung aufgrund ihres Querschnittcharakters praktisch in alle Politikbereich hinein. Eine zentral gesteuerte Digitalisierung könnte somit zu einer grundlegenden Kompetenzverlagerung von den Kantonen hin zum Bund führen und die föderalen Staatsstrukturen der Schweiz sukzessive aushöhlen. Auf jeden Fall besteht ein erhebliches Risiko, dass die Autonomie der Kantone sowie deren politischer und finanzieller Gestaltungs- und Handlungsspielraum faktisch stark eingeschränkt werden.

In einem Rechtsgutachten über die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die bundesstaatliche Steuerung und Koordination im Bereich der digitalen Verwaltung hält Prof. Dr. Andreas Glaser von der Universität Zürich fest, dass es "kaum einen Bereich geben [dürfte], in dem die Organisationsautonomie der Kantone derart zur Geltung kommt, wie in der Verwaltung. Die Strukturen der kantonalen und kommunalen Verwaltungsbehörden, teilweise weiter ausdifferenziert durch eine Bezirksebene, wie auch das Verwaltungsverfahrensrecht weisen eine grosse Vielfalt auf. […] Eine Bundesregelung, die ohne den massgeblichen Einfluss des Sachverstands der Kantone erlassen würde, liefe Gefahr, an den Sachzwängen der Verwaltungsstrukturen zu scheitern."1 Und schliesslich kommt es ab und an auch vor, dass sich die Zentrale irrt und wie beim ersten E-ID-Gesetz, das in der Volkabstimmung vom 7. März 2021 scheiterte, auf das falsche Pferd setzt bzw. von den Bedürfnissen und der Erwartungshaltung der Bevölkerung einfach zu weit weg ist.

Kooperativer Ansatz als Schlüssel zum Erfolg

Inzwischen haben der Bundesrat und die Kantonsregierungen entschieden, die Zusammenarbeit zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden im Bereich der digitalen Verwaltung institutionell zu stärken. Dazu haben sie neu die Organisation "Digitale Verwaltung Schweiz DVS" geschaffen, die Anfang 2022 ihre Arbeit aufnahm. Im Rahmen der DVS sollen gemeinsam die prioritären E-Government-Projekte festgelegt, Standards im Bereich des Datenmanagements und Datentransfers definiert und die Durchgängigkeit von Prozessen verbessert werden. Hier bestehen keine grundsätzlichen Differenzen zwischen den Gemeinwesen. Alle Behörden haben ein Interesse an tragfähigen, breit abgestützten und anschlussfähigen Lösungen.

Die DVS verfügt über gute Voraussetzungen für Erfolge im Bereich der digitalen Verwaltung. Ihre Organe sind am Puls der Entwicklung und können das Potenzial bei der Herausbildung von gemeinsamen Standards ausschöpfen. Insgesamt bietet die DVS eine echte Chance, die digitale Transformation der Verwaltung in der Schweiz vorwärts zu bringen. Die Koordination durch eine gemeinsame Organisation von Bund, Kantonen und Gemeinden ermöglicht Lösungen für Herausforderungen, die nur mit vereinten Kräften bewältigt werden können. Institutionelle Blockaden und Zeitverluste, die aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten in diesem sensiblen Bereich drohen, lassen sich vermeiden und die Vorteile föderaler Strukturen werden nicht unnötig geopfert.

1 Prof. Dr. Andreas Glaser: «Digitale Verwaltung»: Verfassungsrechtliche Anforderungen an die bundesstaatliche Steuerung und Koordination, Rechtsgutachten im Auftrag des Eidgenössischen Finanzdepartements und der Konferenz der Kantonsregierungen, Zürich, 29. Juni 2021, S. 57. Das Gutachten ist auf der Webseite der KdK aufgeschaltet: https://kdk.ch/themen/e-government/digitalisierung.

Zum Autor

Thomas Minger ist stv. Generalsekretär und Leiter des Bereichs Innenpolitik der Konferenz der Kantonsregierungen. Zudem ist er stv. Geschäftsführer der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit.

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