Frauenbeteiligung: Höhen und Tiefen

Mélanie Haab, 10. November 2021

Die Frauen haben nicht bis 1971 gewartet, um sich in der Politik zu engagieren. Bereits 1968 wurde Lise Girardin in Genf erste Bürgermeisterin der Schweiz. Die Gemeindeexekutive war zwar für viele Frauen das Sprungbrett in die Politik, aber ihre Beteiligung stagnierte lange Zeit – bis zum Frauenstreik 2019.

Unsere Reihe zum 50. Jahrestag seit der Einführung des Frauenstimm- und ‑wahlrechts befasst sich mit unterschiedlichen Aspekten dieses Themas. Hier finden Sie die wichtigsten Kennzahlen zur Beteiligung, die Einschätzungen der damaligen bzw. aktuellen Bundesrätinnen Ruth Dreifuss und Karin Keller-Sutter , das Interview mit Maribel Rodriguez, Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Gleichstellungsbeauftragten, sowie gegensätzliche Meinungen zur beschleunigenden oder bremsenden Rolle des Föderalismus.

Die lange Geschichte des Frauenstimm- und ‑wahlrechts begann bereits 100 Jahre vor ihrem erfolgreichen Abschluss. Mit Komitees und Vereinigungen und sogar Streiks und Demonstrationen übten die Frauen Druck auf die Parlamente aller Staatsebenen aus, um das zu erhalten, was ihnen zustand.

Auch zahlreiche Politiker sprachen sich dafür aus, ihnen schrittweise mehr Rechte einzuräumen und dabei unten zu beginnen (Schulkommission, Kirchgemeinderat, Gemeinderat etc.). Je nachdem, wer sich entsprechend äusserte, war dieser Wille entweder eine Strategie, um das Frauenstimmrecht nach und nach in den Lebensgewohnheiten zu verankern, oder eine paternalistische Sichtweise, die die Frauen zuerst erziehen wollte, bevor man ihnen Rechte auf nationaler Ebene gab. Fast 90-mal gingen die Männer auf den verschiedenen politischen Ebenen an die Urne, um über diese Frage abzustimmen, und jedes Mal nahm der Anteil Ja-Stimmen zu.

Bestimmte Kantone wie Waadt oder Genf spielten eine Vorreiterrolle, indem sie ab der Mitte der 1950er-Jahre das Stimm- und Wahlrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene einführten. So konnte ein Teil der Schweiz – neun Kantone – dank des Föderalismus bereits von den neuen Rechten profitieren, ohne auf ein Ja aus Bern warten zu müssen. 1968 leitete mit Lise Girardin in Genf zum ersten Mal eine Bürgermeisterin die Geschicke einer grossen Schweizer Stadt. Die Rolle der Kantone als Versuchslabor bewährte sich einmal mehr, denn schliesslich wurde 1971 das Stimm- und Wahlrecht gleichzeitig auf nationaler Ebene und in 14 Kantonen verankert.

Erste Auswirkungen auf Gemeindeebene

Die Frauen hielten sehr schnell Einzug in die Gemeindeparlamente, wo ihr Anteil 1983 bereits mehr als 15 % betrug. Anfang der 2000er Jahre lag dieser Wert dann bei 30 %. Und seither? Treten an Ort und Stelle! 2019 betrug der Frauenanteil lediglich 32 %, und in den Exekutiven der Städte ist er mit einem Anstieg von 24 % im Jahr 2001 auf 27 % im Jahr 2019 sogar noch geringer. Die Stagnation bei der Vertretung der Frauen in den Gemeinden sei auf die gleichen Gründe wie auf Kantons- und Bundesebene zurückzuführen, vermutet Werner Seitz, Autor des Buchs Auf die Wartebank geschoben: Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900 (Verl. Chronos). Dennoch sei das weibliche Geschlecht in den Städten mit mehr als 100'000 Einwohnerinnen und Einwohnern immer stärker vertreten gewesen als in den übrigen Gemeinden.

Spätes Erwachen in den Kantonen

In den kantonalen Parlamenten und im Nationalrat ging die Entwicklung mit einem Frauenanteil von rund 10 % im Jahr 1983 langsamer vor sich. Danach war ein Aufholeffekt zu verzeichnen, bevor sich die beiden Kurven in den 2000er Jahren ebenfalls abflachten. Die Stagnation des Frauenanteils in den Institutionen ist auch in den Exekutiven festzustellen, und im Ständerat fiel sie 2015 sogar auf 15 %. «Nach dem sehr starken Anstieg der Frauenbeteiligung in den 1990er Jahren durch den Brunner-Effekt war die Untervertretung nicht mehr so skandalös niedrig, und das Thema verschwand aus dem Medien», erklärt Werner Seitz. Gemäss dem Experten nahm die Motivation der Parteien, mehr Kandidatinnen zu finden, entsprechend ab, was sich sofort bemerkbar machte.

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Die Frauenpartizipation stieg rasch auf ca 30% auf gemeine- und dann kantonaleebene. Sie stagnierte danach lang. (Quelle BFS)

Wieder auf der Tagesordnung

Seit einigen Jahren sind Themen rund um die Lohngleichheit, die mentale Belastung oder die «gläserne Decke» wieder aktuell. Dass die Frauen genug haben und der Streik vom 14. Juni 2019 hat eine neue Generation veranlasst, in die Politik zu gehen. Die auf die Lebensläufe von Frauen spezialisierte Politologin Sarah Bütikofer sieht mehrere Erklärungen dafür: «Ein besserer Ausbildungsstand, eine höhere Beteiligung am Arbeitsmarkt, vielfältigere Lebensverläufe, aber auch speziell an politikinteressierte Frauen gerichtete Rekrutierungskampagnen wie Helvetia ruft!.» Und es funktioniert! In den Parlamenten und Regierungen auf allen Staatsebenen ist eine massive Zunahme der Frauenbeteiligung festzustellen. Der Berner Stadtrat zählt beispielsweise 72 % weibliche Mitglieder, während der Neuenburger Grosse Rat das erste Schweizer Kantonsparlament mit einer Frauenmehrheit ist. «Die 42 % Frauen im Nationalrat sind ein nationales Symbol des aktuellen Bewusstseins», meint Werner Seitz.

Vor allem das Profil der Personen, die sich um eine politische Laufbahn bewerben, hat sich geändert und ist vielfältiger geworden. «Die Politikdinosaurier haben weniger Gewicht, sodass junge Politikerinnen und Politiker mit guten Beziehungen schnell den Schritt ins eidgenössische Parlament schaffen», erklärt Werner Seitz.

Haben die zurzeit heiss diskutierten Themen wie Umweltschutz oder Vaterschaftsurlaub diese lila Welle ausgelöst? Die Grünen und Grünliberalen – Parteien, in denen die Frauen gut vertreten sind – konnten ihre Anteile in den Parlamenten drastisch erhöhen, aber die anderen Parteien nähern sich mit einigen Ausnahmen ebenfalls einer paritätischen Vertretung an. «Natürlich haben die Themen einen Einfluss auf das Politikinteresse der betroffenen Generationen, aber dies gilt nicht nur für die Frauen», sagt Sarah Bütikofer.

Vom Nationalrat in den Regierungsrat

Der Aufwärtstrend bestätigt sich auch in den kantonalen Exekutiven. Auf nationaler Ebene bekannte Politikerinnen zögern nicht, in ihrem Kanton zu kandidieren, und haben Erfolg damit. Diese klassische Politiklaufbahnentscheidung hat sich bereits bei Generationen von männlichen Mandatsträgern bewährt, ist nun aber von symbolischer Bedeutung, wenn das Phänomen auch bei den gewählten Frauen vermehrt auftritt. In diesem Zusammenhang sind beispielsweise Natalie Rickli, Evi Allemann  oder Rebecca Ruiz zu nennen.

Diese erfreuliche Nachricht darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass zurzeit sieben Kantonsregierungen reine Männerbastionen sind (oder wieder geworden sind), während 2014 alle kantonalen Exekutiven mindestens eine Frau zählten. «Das zeigt, dass wir ständig auf dieses Thema achten müssen, mindestens solange das Verhältnis zwischen Männern und Frauen in der Politik nicht ausgeglichen ist», sagt Sarah Bütikofer mit Nachdruck. «Und es bestätigt auch, dass die Gleichstellung in der Politik nie ein für alle Mal erreicht ist, sondern immer wieder erkämpft werden muss», meint Werner Seitz abschliessend.


Zur Autorin

Mélanie Haab ist Kommunikationsbeauftragte bei der ch Stiftung. Sie besitzt einen Abschluss in Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Universität Freiburg. In vormaliger Tätigkeit hat sie für verschiedene Medien als Journalistin gearbeitet.

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