Kontroversität! Aber wie?
Überlegungen zur Politischen Bildung in Schule und Gesellschaft
Diskussionsbeitrag von PD Dr. Kijan Espahangizi, Historiker an der Universität Zürich, 25. August 2025
70% der Bevölkerung in der Schweiz sind davon überzeugt, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in den letzten Jahren abgenommen und die politische Polarisierung zugenommen hat.1 Braucht es vor diesem Hintergrund tatsächlich (noch) mehr «Kontroversität», wie der Titel eines Workshops des Vereins Discuss it nahelegt? Und wenn ja, wie «gelingt» Kontroversität?
Im Prinzip schätzt die Schweizer Stimmbevölkerung den Austausch mit Andersdenkenden. Über ein Drittel ist jedoch der Ansicht, dass es besser für das Land wäre, wenn die ihnen unbeliebteste Partei von Wahlen, Abstimmungen und dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen würde.2 Hinzu kommt das vage, aber verbreitete Gefühl, die eigene Meinung ausserhalb der eigenen «Bubble» kaum noch frei äussern zu können. Themen wie Migration, Islam, Klima, Gender und Nahostkonflikt heizen die politische Dauerempörung und Polarisierung fortlaufend an.
Wenn die Bereitschaft zur Kommunikation über politische Lager hinweg abnimmt, korrodiert das Fundament freiheitlicher Demokratien. Ein Blick auf unsere Nachbarländer führt dies eindrücklich vor Augen. Die Frage ist: Wie kann eine politische Auseinandersetzung gelingen, die einerseits Raum für konträre, ja widerstreitende Haltungen bietet und andererseits den gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer freiheitlichen Demokratie stärkt? Wie gelingt heute «Einheit in der Vielfalt», die klassisch-eidgenössische Formel für dieses scheinbare Paradox?
Kontroversität in der Politischen Bildung
Einen vielversprechenden Ansatz bietet das Konzept der «Kontroversität». Der deutschsprachige Fachbegriff geht auf den sogenannten «Beutelsbacher Konsens» zurück. 1976 definierten Didaktiker in der Bundesrepublik – als Reaktion auf die Nachwirkungen der 68er-Bewegung – gemeinsame Grundprinzipien Politischer Bildung. Neben dem Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot für Lehrpersonen formulierten sie ein «Kontroversitätsgebot»: Alles, was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, soll auch an Schulen kontrovers thematisiert werden.3
Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass politische Prozesse wie auch wissenschaftliche Forschung in liberalen Demokratien vom freien Wettstreit unterschiedlicher Perspektiven und Ideen leben. Das didaktische Konzept der Kontroversität zielt darauf ab, diesen Wettstreit als produktive, bildende Kraft zu verstehen und einzusetzen. Auch wenn ein Konsens nicht erreichbar ist, sollen Kontroversen so gestaltet werden, dass sie einer Fragmentierung der Gesellschaft entgegenwirken – etwa durch die Förderung von Multiperspektivität, politischer Empathie und Toleranz, Urteilskompetenz, kritischer Selbstreflexion und sozialem Zusammenhalt.
Der deutschsprachige Begriff «Kontroversität» meint also mehr als nur ein «Streitgespräch» (franz. «débat contradictoire»). Es geht nicht einfach um politische Debatten, in denen Meinungen wie in der Arena aufeinandertreffen. Es geht um eine Haltung, einen Wert und eine Grundkompetenz demokratischer Gesellschaften, die gezielt gefördert werden muss, und zwar bereits bei jungen Menschen.
Ziel: Mehr «Dissenstauglichkeit»
Eine Reaktion auf gesellschaftliche Polarisierung besteht darin, Kontroversen zu vermeiden, gerade auch an Schulen. Dies ist nachvollziehbar, erschwert aber Politische Bildung im Sinne des Beutelsbacher Konsens. Die neuere didaktische Forschung zeigt, dass ein oberflächliches Verständnis vom Neutralitätsgebot aber auch von Wissenschaftsorientierung dazu beitragen kann, Kontroversität auszublenden: So werden heikle politische Fragen von Lehrpersonen nicht selten vorauseilend umschifft oder unter Berufung auf wissenschaftliche Autoritäten szientistisch entschieden, bevor es überhaupt zur Debatte kommen kann. In letzter Instanz droht, dass Politische Bildung gar nicht mehr stattfindet.
Entsprechend betont der Präsident der Interkantonalen Fachkonferenz Citoyenneté IFC, Dr Philippe Weber (ZG), dass gerade in der Arbeit mit Jugendlichen die eigentliche Herausforderung darin besteht, Kontroversität zu schaffen und sichtbar zu machen. Daran anschliessend spricht sich Andreas Stadelmann, Dozent an der PH St. Gallen, in Anlehnung an den Zürcher Pädagogen Roland Reichenbach, dafür aus, in der Politischen Bildung vermehrt auch «Dissenstauglichkeit» zu fördern. Gemeint ist die Fähigkeit, konträre politische Positionen auszuhalten, ins Gespräch zu kommen und zu akzeptieren, dass ein Konsens nicht immer gelingt, Konflikte nicht immer gelöst werden können.
Discuss it!
Ein Verein, der hier ansetzt, ist Discuss it. Durch moderierte Podien und Streitgespräche will der Verein Interesse für Politik bei Schülerinnen und Schülern wecken. Allein 2024 fanden rund 200 solcher Diskussionsveranstaltungen an 75 Schulen statt, mit denen ca. 17’500 Schülerinnen und Schüler erreicht wurden.4 In den Veranstaltungen von Discuss it erleben Jugendliche politische Kontroversen in altersgerechter Form. Es geht nicht darum, gesellschaftliche Polarisierung ungefiltert ins Klassenzimmer zu holen, sondern Kontroversität didaktisch zu kuratieren, anzuleiten und zu moderieren.
Andreas Stadelmann betont zu Recht, dass es ein Fehler wäre, jungen Menschen die Last aufzubürden, komplexe Konflikte der «Erwachsenenwelt» auszutragen oder gar «die Demokratie retten» zu müssen. Sie sollten vielmehr in einem geschützten Lernraum mit Hilfe von guten Vorbildern und Anleitung auf ihre Rolle als mündige Bürgerinnen und Bürger vorbereitet werden. So wichtig diese Arbeit ist, eine zentrale Frage bleibt offen: Wie schlagen wir die Brücke zwischen politischen Kontroversen in der Schule resp. im geschützten Rahmen einerseits und der Gesellschaft resp. Öffentlichkeit andererseits?
Zwischen Diskursethik und Wirklichkeit
Im Zentrum eines Workshops von Discuss it zugunsten der Mitglieder der Interkantonalen Fachkonferenz Citoyenneté IFC und der Schweizerischen Mittelschulämterkonferenz SMAK vom 11. Juni 2025 standen denn auch diskursethische Fragen: Wo liegen die Grenzen des Sag- und Zumutbaren in einer guten politischen Debatte? Wann sollte eine Moderation eingreifen und in welcher Form?
Tatsächlich ist es wichtig, jungen Menschen die Normen und Werte des «verantwortungsvollen Gesprächs» zu vermitteln ‒ ohne dabei jedoch in Moralismus zu verfallen.5 Dies betont auch Stéphane Garcia vom Verein Genève Débat: weniger intervenieren, mehr debattieren. Dies wäre auch anschlussfähiger an gesellschaftliche Kontroversen, die in Realität anders ablaufen: mit harten Bandagen, oft ohne Moderation und Rücksichtnahme. Wer Diskussionen allzu schnell abwürgt, läuft zudem Gefahr, das politische Interesse im Keim zu ersticken.
In einer direktdemokratischen Gesellschaft wie der Schweiz gibt es bewusst einen weit gefassten Rahmen für freie Meinungsbildung und Meinungsäusserung. Innerhalb der grund- und strafrechtlichen Grenzen ist vieles sagbar, was im Klassenzimmer problematisch erscheinen kann. Aber auch umgekehrt gilt: Gewisse pädagogische Interventionen im Schulkontext würden im öffentlichen Diskurs der grundrechtlichen Freiheit zur Meinungsäusserung zuwiderlaufen.
Ein respektvoller Umgang und Rücksicht auf vulnerable Gruppen sind beispielsweise Tugenden, die bei jungen Menschen geschult werden können und müssen. Gleichzeitig gilt es, kritisch im Auge zu behalten: Verletztheit und subjektives Unwohlsein bei politischen Debatten können in der «Erwachsenenwelt» zuweilen auch als Vorwand dienen, sich bestimmten Meinungen gar nicht erst stellen zu müssen oder sie sogar aus dem Diskurs auszuschliessen – im Sinne der eingangs zitierten Umfrage.
Mentales Yoga für alle!
Kontroversität heisst: souveräner im Umgang mit Dissens zu werden – kognitiv und affektiv –, konträre Positionen auszuhalten, sich auf diese einzulassen, sie sogar wertzuschätzen, auch wenn es unangenehm ist. Kontroversität ist mehr als ein Streitgespräch, bei dem alle am Ende doch wieder in der eigenen Meinung bestätigt werden. Es ginge, sinnbildlich gesprochen, eher um eine Art kollektive Yoga-Übung, bei der alle Beteiligten in Hinblick auf ihre politischen Haltungen in die Dehnung gehen müssen. Auch wenn am Ende kein Konsens entsteht: die geteilte Erfahrung des Dehnungsschmerzes und des anschliessenden Beweglichkeitszuwachses im Denken hätte das Potenzial, jenseits der unterschiedlichen politischen Einstellungen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stiften.
Infobox
Der Text entstand ausgehend von einer beobachtenden Teilnahme des Autors am Workshop «Kontroversität! Aber wie?». Dieser fand am 11. Juni im Haus der Kantone in Bern statt und wurde vom Verein Discuss it unter Beteiligung von Andreas Stadelmann (PH St.Gallen) und Stéphane Garcia (Vereine Genève Débat und Et pourquoi pas?) geleitet. Teilnehmende des Workshops waren die Mitglieder der Interkantonalen Fachkonferenz Citoyenneté IFC und der Schweizerischen Mittelschulämterkonferenz SMAK.
Referenzen
1 Ivo Nicholas Scherrer, Isabel Schuler und Flurina Wäspi (2024): Zwischen Konflikt und Kompromiss. URL: https://www.polarisierung.ch/zwischen-konflikt-und-kompromiss (zuletzt geöffnet am 27. Juni 2025).
2 Ivo Nicholas Scherrer, Isabel Schuler und Flurina Wäspi (2025): Polarisierte Gesellschaft, gefährdete Demokratie? URL: https://www.polarisierung.ch/ (zuletzt geöffnet am 27. Juni 2025).
3 Thomas Goll (Hg., 2024): Kontroversität. Grundlage und Herausforderung (nicht nur) der politischen Bildung, Wochenschau Verlag.
4 https://www.discussit.ch/wirkung/facts-figures/ (zuletzt geöffnet am 27. Juni 2025).
5 Sarah Michaels, Catherine O’Connor und Lauren B. Resnick (2008): Deliberative Discourse Idealized and Realized: Accountable Talk in the Classroom and in Civic Life, in: Studies in Philosophy and Education 27(4): S. 283-297.

Zum Autor
Kijan Espahangizi ist Historiker und Privatdozent an der Universität Zürich. Er hat Geschichte und Physik studiert, wurde an der ETH Zürich promoviert und ist aktuell als Fachkoordinator für Lehrer:innenausbildung Sek I & II am Historischen Seminar der Universität Zürich tätig. Er forscht und lehrt zur Geschichte der Schweiz und Themen wie Nation-building, Migration, Pluralisierung und Globalisierung. Er bringt sich pointiert in öffentliche Debatten ein und engagiert sich im Bereich historisch-politischer Bildung. Er ist designierter Präsident der Kommission Historische Bildung der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte.
Bild © Philippe Rossier