Viele Wege führen zur Citoyenneté

Alexander Arens und Meret Lory, 27. März 2024

Politische Bildung zielt auf Kompetenzen ab, die es ermöglichen, sich aktiv und nach demokratischen Gepflogenheiten in die Politik einzubringen. Sie umfasst viel mehr als reines Faktenwissen. Der Versuch einer Darstellung, was politische Bildung oder, anders ausgedrückt, éducation à la citoyenneté ist.

Politik und Bildung. Zwei Wörter, die im ersten Moment alle zu verstehen glauben, sicher aber uns alle betreffen. Zusammengeführt als politische Bildung oder éducation à la citoyenneté sind sie für das Funktionieren des föderalen, direktdemokratischen Systems der Schweiz essenziell. Doch was genau ist politische Bildung, an wen richtet sie sich und wie kann sie konkret aussehen?

Ohne engagierte Bürgerinnen und Bürger keine Demokratie

Demokratie bedeutet Herrschaft des Volkes. Sie ist Rahmen und Grundprinzip der politischen Organisation der Schweiz und entwickelte sich zunächst in den Kantonen und seit 1848 auch im modernen Bundesstaat auf nationaler Ebene.1 Sie ist Errungenschaft und Auftrag zugleich: Ohne sich engagierende Bürgerinnen und Bürger, die die demokratischen Regeln kennen und danach spielen, gibt es keine Demokratie. Kompetenzen zur politischen Beteiligung sind jedoch nicht angeboren, sondern werden durch politische Bildung im Lauf der Kindheit, Jugend und auch noch im Erwachsenenalter aufgebaut und weiterentwickelt.

Politische Bildung gemäss Europarat

«Politische Bildung (Education for Democratic Citizenship) bedeutet Bildung, Ausbildung, Bewusstseinsbildung, Information, Praktiken und Aktivitäten, deren Ziel es ist, Lernende durch die Vermittlung von Wissen, Kompetenzen und Verständnis sowie der Entwicklung ihrer Einstellungen und ihres Verhaltens zu befähigen, ihre demokratischen Rechte und Pflichten in der Gesellschaft wahrzunehmen und zu verteidigen, den Wert von Vielfalt zu schätzen und im demokratischen Leben eine aktive Rolle zu übernehmen, in der Absicht, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern und zu bewahren.»2

Die Definition ist im Diskurs breit anerkannt. Es soll hier aber angeregt werden, dass der «Vorrang für Lernende»3, wie ihn der Europarat postuliert, abgeschwächt wird, indem Menschen jeden Alters und unabhängig von ihrer Lebenssituation adressiert werden. Das Prinzip des lebenslangen Lernens soll im Vordergrund stehen, wie es vielerorts bereits praktiziert wird. Auch im internationalen Kontext ist lange nicht mehr nur von Jugendlichen die Rede: im bundesdeutschen Kontext ist bei der politischen Bildung von Jugendlichen und Erwachsenen die Rede4; in Frankreich umfasst sie mehr als den schulischen Parcours Citoyen5, indem sie, wie bspw. in der Culture et Éducation populaire6, alle Altersstufen betrifft.

Die Definition macht aber deutlich, dass politische Bildung mehr ist als reines Faktenwissen. Überspitzt gesagt: Ob man weiss, was eine Interpellation ist oder wer die sieben ersten Bundesräte waren, ist weniger ausschlaggebend. Das Politik-Lernen (Aneignen von Sachkenntnissen, kritische Reflexion, etc.) ist zweifelsohne ein wichtiger Bestandteil. Ebenso zentral ist aber auch das Demokratie-Lernen, das auf handlungsorientierte Kompetenzen wie die Kooperations-, Konflikt- und Konsensfähigkeit abzielt.7 In diesem Zusammenhang ist der Referenzrahmen des Europarats8 hervorzuheben, der 20 Kompetenzen destilliert hat, deren Erwerb dazu beiträgt, sich in der Demokratie einzubringen.

Der Referenzahmen lässt sich genauso gut auf Angebote selbst anwenden: Wo setzt mein Vorhaben an? Welche Kompetenzen werden damit ausgebildet?9 Ähnlich anleitend ist der Beutelsbacher Konsens, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entwickelt wurde, im deutschsprachigen Raum weitverbreitet ist und drei Leitlinien bei der Umsetzung von Angeboten der politischen Bildung vorgibt10:

  • Überwältigungsverbot: Keine Indoktrination, sondern selbstständige Urteilsfindung.
  • Kontroversitätsgebot: Falls unterschiedliche Standpunkte in Wissenschaft und Politik bestehen, sollen diese auch abgebildet werden.
  • Interessenorientierung: Die Analyse eines Sachverhalts und die folgenden Schlüsse sollen vor dem Hintergrund der eigenen Interessen erfolgen.

Zwar besteht im französischsprachigen Raum kein solches globales Konzept. Dennoch werden ähnliche Überlegungen dazu angestellt, was es bei politischer Bildung zu beachten gilt. Beispielhaft kann hier der Umgang mit sogenannten «thèmes sensibles» genannt werden (ähnlich zum Kontroversitätsgebot).11

Wo und wie politische Bildung überall stattfinden kann

Während die formale Bildung in Schulen und Universitäten stattfindet, handelt es sich bei non-formaler Bildung um Programme ausserhalb solcher Bildungsinstitutionen, oftmals angeboten von Vereinen und Verbänden mit viel freiwilligem Engagement. Auch können solche Aktivitäten von Parlamenten, Staatskanzleien oder sonstigen Institutionen verschiedener staatlicher Ebenen ausgehen. Informelle Bildung bezieht sich auf das eigene Umfeld und Alltagserfahrungen, die nicht explizit auf Bildung abzielen, aber nicht weniger wichtig sind.

In der formalen Bildung lässt sich erkennen, dass politische Bildung in der Schweiz in den sprachregionalen Lehrplänen der Volksschule verankert ist. Im Lehrplan 21 wird sie fächerübergreifend verstanden und kann unter anderem Bestandteil des Fachs Natur, Mensch, Gesellschaft, des Deutsch- oder des Geschichtsunterrichts sein.12 Ebenso ist es möglich, dass bspw. im Französischunterricht mit dem «Aufsetzen einer Politik-Brille» 13 ein Thema aus einer politischen Perspektive betrachtet, analysiert und diskutiert wird. Auch im Plan d’études romand PER und im Piano di studio del Ticino finden sich die éducation à la citoyenneté resp. die educazione alla cittadinanza.14 Und im neuen Rahmenlehrplan der Maturitätsschulen soll die politische Bildung fester Bestandteil des transversalen Bereichs und bedeutendes interdisziplinäres Thema sein.

Ausserschulische Lernorte als Schlüssel

Ein Weg zu mehr politischer Bildung könnten insbesondere non-formale, ausserschulische Angebote sein. Beispiele sind eingängig aufbereitete Broschüren und Erklärvideos zu Wahlen, Abstimmungen und Politikfeldern von easyvote sowie die zahlreichen Aktionen im Rahmen des Tags der Demokratie vom 15. September, der vom Campus für Demokratie koordiniert wird.15 Ähnlich verdeutlicht das Genfer Präsidialjahr im Zeichen der Demokratie wie vielseitig non-formale Angebote sein können, auch hinsichtlich verschiedenster Altersgruppen. Weiter ist die Urner Schulreise nach Bern ein gutes Beispiel für politische Bildung, die bewusst ausserhalb des Klassenzimmers stattfindet und gerade deswegen so fruchtbar ist.

Die Liste lässt sich hier beliebig fortführen: Von der Session fribourgeoise des jeunes über die Podien und Workshops von Discuss it bis zu den kantonalen Aktionstagen wie dem Tag der politischen Bildung in Schaffhausen und dem Kantonalen Jugendpolittag in Zug. Nicht nur können ausserschulische Angebote flexibel kombiniert und herangezogen werden, auch gibt es wohl keine Altersgruppe, die nicht adressiert, kein Thema, das nicht behandelt, keine Kompetenz, die nicht ausgebildet wird.

Referenzen

1 Siehe u.a. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010234/2014-11-26/#HDieKantonsverfassungenab1798 (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024) sowie Hangartner, Y., Kley, A., Braun Binder, N. & Glaser, A. (2023): Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft (2. Auflage). Zürich: Dike (S. 519ff.).

2 Europarat (2010/2014). «Europarats-Charta zur Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung». In Europarat (Hrsg.), Empfehlung CM/Rec(2010)7 des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten (verabschiedet vom Ministerkomitee am 11. Mai 2010 anlässlich der 120. Versammlung). Strasbourg, S. 5–13 (S. 7).

3 Dies wurde gerade erst wieder mit der Bildungsstrategie 2024–2030 bestätigt. Siehe u.a. https://www.coe.int/de/web/portal/-/-learners-first-the-new-council-of-europe-education-strategy-launched (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

4 Siehe u.a. Massing, P. (2021; https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202092/politische-bildung/; zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024) sowie Sander, W. (2009; https://www.bpb.de/lernen/kulturelle-bildung/59935/was-ist-politische-bildung/; zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

5https://www.education.gouv.fr/le-parcours-citoyen-5993 (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

6https://www.culture.gouv.fr/Thematiques/Developpement-culturel/Le-developpement-culturel-en-France/Culture-et-Education-populaire (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

7 Veith, H. (2008): Politik-Lernen, Demokratie-Lernen und Globales Lernen. Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik ZEP: S. 4–7.

8 Europarat (2016): Kompetenzen für eine demokratische Kultur. Gleichberechtigtes Zusammenleben in kulturell unterschiedlichen demokratischen Gesellschaften (kurze Zusammenfassung). URL: https://rm.coe.int/16806ccc0b (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

9 Siehe u.a. Gollob, R. (2021): https://campusdemokratie.ch/peerprozesse/ (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

10 Siehe u.a. https://www.bpb.de/lernen/inklusiv-politisch-bilden/505269/der-beutelsbacher-konsens/ (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024).

11 Siehe u.a. Buttier, J.-C. & Panagiotounakos, A. (2023): Des savoirs pour agir sur le monde. Quels apprentissages des élèves face aux enjeux contemporains ? Presses universitaires de Grenoble.

12 Thyroff, J., Scheller, J., Schneider, C. & Waldis, M. (2019): Politische Bildung auf Sekundarstufe I: Erscheinungsformen und Herausforderungen am Beispiel von Unterrichtsequenzen zu «Europa – EU – Schweiz». Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften, 42(1): 127–146.

13 Sperisen, V. & Schneider, C. (2019): Durchblicken. Polis: das Magazin für Politische Bildung, 11: S. 20ff.

14 Siehe u.a. https://www.education21.ch/fr/edd/approches/education-a-la-citoyennete und https://www.education21.ch/it/ess/approcci/educazione-alla-cittadinanza-e-ai-diritti-umani (zuletzt geöffnet am 14. Februar 2024)

15 easyvote wurde 2021 und der Campus für Demokratie 2023 mit dem Föderalismuspreis der ch Stiftung ausgezeichnet: https://chstiftung.ch/foederalismuspreis 


Autor und Autorin

Alexander Arens ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der ch Stiftung. Er hat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern promoviert.

Meret Lory ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der ch Stiftung. Sie hat Mehrsprachige Kommunikation und Fachübersetzen an der ZHAW studiert.

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